Boris Pasternak
jetzt im Hause als die Wohnung der Familie
Gromeko galten, und wog jeden kleinen Gegenstand in der Hand, bevor sie ihn zu
dem allgemeinen Reisegepäck legte.
Nur ein kleiner Teil davon war
persönlicher Bedarf, alles übrige war als Tauschobjekt gedacht und sollte ihnen
unterwegs und nach der Ankunft nützlich sein.
Durch die offene
Lüftungsklappe drang Frühlingsluft herein, die nach einer frisch angebissenen
französischen Semmel duftete. Im Hof krähten Hähne und juchzten spielende
Kinder. Je mehr das Zimmer durchlüftete, desto stärker wurde der
Naphthalingeruch von den aus den Truhen geholten Wintersachen.
Was man mitnehmen und was man
zurücklassen mußte, darüber gab es eine ganze Theorie, aufgestellt von den
schon früher Weggereisten, deren Erfahrungen in ihrem Bekanntenkreis
weitergegeben wurden.
Diese Belehrungen, die zu
kurzen, unanfechtbaren Weisungen wurden, standen Tonja so deutlich im Kopf, daß
sie sie zusammen mit dem Tschilpen der Spatzen und dem Lärm der spielenden
Kinder vom Hof her zu hören wähnte, als wäre es eine geheime Stimme, die sie
ihr von draußen soufflierte.
»Stoffe, Stoffe«, lauteten
diese Hinweise, »am besten zugeschnittene Stücke, doch unterwegs wird
kontrolliert, und das ist gefährlich. Am besten Stücke, aus denen scheinbar
schon Kleider zugeschnitten sind. Überhaupt Stoffe, Manufakturwaren, auch
fertige Kleidung, vor allem Oberbekleidung, nicht zu sehr abgenutzt. Wenig
Trödel, nichts Schweres. Man sollte alles selber tragen können. Keine Körbe und
Koffer. Weniges, hundertmal Überlegtes, zu Bündeln schnüren, die eine Frau oder
ein Kind tragen kann. Zweckmäßig sind Salz und Tabak, wie die Praxis zeigt,
allerdings bei großem Risiko. Geld in Kerenski-Rubeln. Am schwierigsten ist es
mit den Dokumenten.« Und so weiter und so fort.
Am Abend vor der Abreise erhob
sich ein Schneesturm. Der Wind trieb graue Wolken stöbernder Schneeflocken hoch
zum Firmament, die als weißer Wirbel zur Erde zurückkehrten, die dunkle Straße
entlangrasten und sie in weiße Schleier hüllten.
Im Hause war alles gepackt.
Die Zimmer und die verbleibende Habe wurden einem bejahrten Ehepaar in Obhut
gegeben, Moskauer Verwandten der Jegorowna, die Tonja im letzten Winter
kennengelernt hatte, als sie mit deren Hilfe alte Sachen, Kleider und
überflüssige Möbel gegen Brennholz und Kartoffeln tauschte.
Auf Markel war kein Verlaß
mehr. Bei der Miliz, die er sich als politischen Klub auserkoren hatte, zeigte
er zwar die einstigen Hausbesitzer Gromeko nicht als Blutsauger an, aber er
machte ihnen nachträglich den Vorwurf, sie hätten ihn all die Jahre in dunkler
Unwissenheit gehalten, indem sie ihm absichtlich verheimlichten, daß die Welt
vom Affen abstamme.
Das Ehepaar, ein ehemaliger
Handelsangestellter und seine Frau, wurde von Tonja ein letztes Mal durch die
Zimmer geführt. Sie zeigte den beiden, welche Schlüssel zu welchen Schlössern
paßten und was wo verwahrt lag. Sie öffnete und verschloß Schranktüren, zog
Schubkästen auf und schob sie wieder zu, erklärte ihnen alles.
Tische und Stühle waren an die
Wände gerückt, die Reisebündel lagen in einer Ecke, von allen Fenstern waren
die Gardinen entfernt worden. Ohne deren gemütlichen Rahmen blickte der
Schneesturm ungehindert in die Zimmer. Er rief in jedem von ihnen bestimmte
Erinnerungen wach:
Juri dachte an seine Kindheit
und den Tod der Mutter, Tonja und ihr Vater an das Ableben und die Beisetzung
Anna Iwanownas. Sie alle glaubten, dies sei ihre letzte Nacht im Hause, und sie
würden es nie wieder sehen. Sie irrten sich, doch unter dem Eindruck des
Irrtums, den sie einander verheimlichten, um sich nicht zu betrüben, ließ jeder
noch einmal das Leben unter diesem Dach an sich vorüberziehen und kämpfte mit
den Tränen.
Das hinderte Tonja nicht, vor
den Fremden vornehmen Anstand zu wahren. Sie unterhielt sich fortwährend mit
der Frau, deren Obhut sie alles anvertraute. Sie übertrieb die Bedeutung des
Dienstes, der ihr erwiesen wurde. Um die Gefälligkeit nicht mit schwarzem
Undank zu lohnen, ging sie immer wieder mit Entschuldigungen ins Nebenzimmer,
von wo sie der Frau als Geschenk bald ein Tuch brachte, bald eine Bluse, bald
ein Stück Kattun oder Halbchiffon. Die Stoffe waren dunkel, weiß kariert oder
getüpfelt, weiß gesprenkelt wie die dunkle verschneite Straße, die an diesem
Abschiedsabend durch die kahlen Fenster hereinblickte.
Zum Bahnhof brachen sie schon
im Morgengrauen auf. Die
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