Boris Pasternak
gescheites Mädchen, Nichte eines Angestellten am Moskauer
Güterbahnhof.
Sie war ein begabter Lehrling.
Die ehemalige Prinzipalin Lewizkaja hatte sie bevorzugt, und auch die Neue zog
sie zu sich heran. Olja mochte Lara sehr.
In der Schneiderwerkstatt
blieb nach dem Besitzerwechsel alles beim alten. Die Nähmaschinen rotierten
wie wahnsinnig unter den Fußbewegungen oder fliegenden Händen der müden
Schneiderinnen. Andere nähten geräuschlos, auf dem Tisch sitzend, und führten
die Hand mit der Nadel und dem langen Faden immer wieder zur Seite. Der
Fußboden war mit Stoffresten übersät. Man mußte laut sprechen, um das Rattern
der Nähmaschinen und die schmetternden Triller des Kanarienvogels Kirill
Modestowitsch zu übertönen; dieser saß in seinem Käfig im Fenstergewölbe, und
die frühere Herrin hatte das Geheimnis seines Namens mit ins Grab genommen.
Im Empfangssalon umstanden die
Damen als malerische Gruppe den Tisch mit den Modejournalen. Einige saßen auch,
stützten die Ellbogen auf und imitierten dabei die Posen, die sie auf den Abbildungen
sahen. Sie betrachteten die Modelle und berieten sich über die Schnitte. An
einem anderen Tisch saß auf dem Direktricenplatz Madame Guichards Assistentin,
die Chefzuschneiderin Faina Fetissowa, eine knochige Frau mit Warzen auf den
eingesunkenen schlaffen Wangen.
Sie hielt eine beinerne
Zigarettenspitze zwischen den gelben Zähnen, blinzelte mit den gelben Augen,
stieß einen gelben Rauchstrom aus Mund und Nase und notierte in einem Heft die
Maße, die Quittungsnummern, die Adressen und die Wünsche der sich drängenden
Kundinnen.
Madame Guichard war neu in der
Schneiderei und hatte keine Erfahrung. Sie fühlte sich noch nicht als
vollwertige Prinzipalin. Aber auf ihr Personal konnte sie sich verlassen und
auf Faina Fetissowa ebenso. Gleichwohl war es für sie eine sorgenvolle Zeit.
Sie hatte Angst, an die Zukunft zu denken. Immer wieder packte sie
Verzweiflung. Alles fiel ihr aus den Händen.
Komarowski besuchte sie
häufig. Wenn er durch die Werkstatt zu den Wohnräumen ging und im Vorübergehen
die sich umkleidenden Modenärrinnen erschreckte, die bei seinem Erscheinen
hinter einen Wandschirm flüchteten und seine hemdsärmeligen Scherze von dort
kokett parierten, flüsterten die Schneiderinnen spöttisch und mißbilligend
hinter ihm her: »Schon wieder.« — »Ihr Kerl.« — »Amalias Liebhaber.« — »Dieser
Bulle.« — »Frauenverderber.«
Noch mehr haßten sie seine
Bulldogge Jack, die er manchmal an der Leine mitbrachte und die ihn mit
schnellen Sprüngen hinter sich herzog, so daß er aus dem Tritt kam und mit
vorgestreckten Armen hinter dem Hund herstolperte wie ein Blinder hinter seinem
Führer.
Einmal im Frühjahr biß die
Bulldogge Lara ins Bein und zerriß ihr den Strumpf.
»Ich bringe ihn um, diesen
Teufel«, flüsterte Olja Djomina heiser Lara ins Ohr.
»Ja, der Köter ist wirklich
widerlich. Aber wie willst du das machen, du Dummchen?«
»Still, nicht so laut, ich
sag's Ihnen. Bei Ihrer Frau Mutter liegen doch solche Ostereier aus Stein auf
der Kommode... «
»Ja, aus Marmor und Kristall.«
»Genau, die meine ich. Ich
sag's Ihnen ins Ohr, kommen Sie näher. Man muß sie mit Speck einreiben, dann
bleibt der Geruch hängen, der räudige Köter verschlingt sie, dieser Satan,
dieses Ungetüm, und Schluß! Dann streckt er alle viere von sich! Von dem Glas!«
Lara lachte und dachte
neidisch: Das Mädchen lebt in Armut und muß arbeiten. Die Kinder aus dem Volk
entwickeln sich früh. Doch wieviel Unverdorbenes und Kindliches sie noch an
sich hat. Die Eier, Jack — wo hat sie das her? Aber warum muß ich alles sehen
und unter allem leiden?
Er ist doch Mamas — wie heißt
das gleich... Er ist doch ihr... Scheußliche Wörter, ich mag sie nicht
wiederholen. Aber warum sieht er mich dann mit solchen Augen an? Ich bin ihre
Tochter!
Sie war knapp über sechzehn,
doch schon ein vollentwickeltes junges Mädchen. Sie wurde auf achtzehn und
darüber geschätzt, hatte einen klaren Verstand und einen umgänglichen Charakter
und war sehr hübsch.
Sie und ihr Bruder wußten, daß
sie alles im Leben aus eigener Kraft erreichen mußten. Im Gegensatz zu den
Nichtstuern und Wohlversorgten hatten sie nicht die Zeit, frühzeitig
Gerissenheit anzustreben und theoretisch Dinge auszuschnüffeln, die sie
praktisch noch nicht berührten. Nur das Überflüssige war schmutzig. Lara war
das reinste Wesen auf der Welt.
Die Geschwister kannten den
Preis
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