Boris Pasternak
aller Dinge und wußten das Erreichte zu schätzen. Sie mußten einen guten
Ruf haben, um sich durchzusetzen. Lara war eine gute Schülerin, nicht aus
abstraktem Hang zum Wissen, sondern weil sie, um vom Schulgeld befreit zu
werden, eine gute Schülerin sein und gut lernen mußte. Ebenso gut, wie sie
lernte, wusch sie das Geschirr, half in der Werkstatt und erledigte die
Aufträge ihrer Mutter. Ihre Bewegungen waren lautlos und harmonisch, und alles
an ihr - die unmerkliche Flinkheit der Bewegungen, ihre Figur, ihre Stimme,
ihre grauen Augen und ihre blonden Haare - paßte zueinander.
Es war ein Sonntag Mitte Juli.
An Feiertagen konnte man morgens ein wenig länger im Bett bleiben. Lara lag auf
dem Rücken, die Hände unterm Kopf.
In der Werkstatt herrschte
ungewohnte Stille. Das Fenster zur Straße stand offen. Lara hörte, wie eine
vorüberpolternde Droschke vom Straßenpflaster abkam und mit den Rädern in die
Pferdebahnschiene geriet, denn das derbe Rattern ging über in ein leichtes
Gleiten des Rades wie durch Öl. Ich sollte noch ein bißchen schlafen, dachte
sie. Der Stadtlärm wirkte einschläfernd wie ein Wiegenlied.
Lara spürte beim Liegen ihren
Körper an zwei Stellen — der linken Schulterrundung und dem rechten großen Zeh.
Schulter und Fuß also, alles übrige war mehr oder weniger ihr Ich, ihre Seele
oder ihr Wesen, in harmonische Formen gefügt und erwartungsvoll der Zukunft
entgegenstrebend.
Ich muß einschlafen, dachte
sie und stellte sich die Sonnenseite der Karetny-Reihe zu dieser Stunde vor,
die Schuppen der Equipagenunternehmen mit den gewaltigen Fahrzeugen, die auf
sauber gefegtem Boden zum Verkauf standen, das geschliffene Glas der
Kutschenlaternen, die ausgestopften Bären, das pulsierende Leben. Ein Stückchen
weiter unten — Lara malte es sich aus - exerzierten die Dragoner im Hof der
Snamenskije-Kasernen, gehorsame Pferde gingen im Kreis, die Dragoner sprangen
mit Anlauf in den Sattel und ritten Schritt, Trab und Galopp. An die Umfriedung
des Kasernements drängten sich offenen Mundes Kinderfrauen und Ammen mit Kindern.
Noch weiter unten, dachte
Lara, da ist die Petrowka, sind die Petrowskije-Linien. »Ich bitte Sie, Lara!
Wie kommen Sie darauf? Ich möchte Ihnen nur meine Wohnung zeigen. Zumal es
gleich um die Ecke ist.«
Olga, die kleine Tochter
seiner Bekannten in der Karetny-Reihe, hatte Geburtstag. Aus diesem Anlaß
vergnügten sich die Erwachsenen bei Tanz und Champagner. Er hatte Mama
mitnehmen wollen, aber sie konnte nicht, sie fühlte sich krank. Darum sagte
sie: »Nehmen Sie Lara mit. Sie ermahnen mich ja dauernd, ich soll auf sie
aufpassen. Heute können Sie das tun.« Und er hatte auf sie aufgepaßt, das
konnte man wohl sagen! Hahaha!
Ein Walzer, das war wirklich
etwas Verrücktes! Drehen, drehen, an nichts denken. Während die Musik spielte,
verging eine Ewigkeit, wie das Leben in Romanen. Kaum aber hörte sie auf, hatte
man das Empfinden von etwas Skandalösem, als wäre man mit kaltem Wasser
übergössen oder splitternackt überrascht worden. Doch ließ man sich diese
Freiheiten gefallen, um vor den anderen anzugeben und zu zeigen, wie erwachsen
man schon war.
Lara hätte nie gedacht, daß er
so gut tanzen konnte. Was hatte er doch für kluge Hände, wie sicher umfaßte er
ihre Taille! Aber so küssen würde sie sich nie wieder lassen. Sie hatte nicht
geahnt, daß sich in den Lippen eines anderen soviel Schamlosigkeit bündeln
konnte, wenn sie so lange auf die eigenen gepreßt wurden.
Schluß mit den Dummheiten. Ein
für allemal. Nie wieder die Einfalt spielen, nie wieder sanft tun, nie wieder
schamhaft den Blick senken. Sonst nahm das noch ein schlimmes Ende. Dicht neben
ihr war die schreckliche Linie, übertrat sie die, so stürzte sie in den
Abgrund. Nicht mehr ans Tanzen denken. Darin lag alles Übel. Beherzt ablehnen.
Schwindeln, sie könnte nicht tanzen oder hätte sich das Bein gebrochen.
Im Herbst kam es auf den
Strecken des Moskauer Eisenbahnnetzes zu Unruhen. Auf der Strecke Moskau-Kasan
streikten die Eisenbahner. Die Moskau-Brester Strecke sollte folgen. Der
Streikbeschluß war gefaßt, aber das Komitee konnte sich über den Tag nicht
einigen. Alle Eisenbahner wußten von dem Streikbeschluß, und es bedurfte nur
noch eines äußeren Anlasses, um ihn eigenmächtig in Kraft zu setzen.
Es war ein kalter,
unfreundlicher Morgen Anfang Oktober, Zahltag für die Eisenbahner. Aus der
Buchhaltung kamen lange keine Informationen. Dann erschien im Büro ein
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