Boris Pasternak
gesehen hatte.
Er erinnerte sich an die
verzauberte Erhabenheit der Nacht, an den Morgen und an seine Allmacht, als er
nach seinem Willen der Natur gebot. Was würde ich ihr jetzt befehlen? dachte
er. Was wünsche ich mir am allermeisten? Am liebsten wäre er noch einmal mit
Nadja in den Teich gefallen, und er hätte viel darum gegeben, zu erfahren, ob
das noch einmal geschehen würde.
Zweiter Teil
Ein Mädchen aus anderen
Kreisen
Der Krieg mit Japan war noch
nicht zu Ende. Unerwartet jedoch traten andere Ereignisse in den Vordergrund.
Revolutionäre Wellen gingen über Rußland hin, eine höher und unglaublicher als
die andere.
Um diese Zeit reiste die Witwe
eines belgischen Ingenieurs, die russifizierte Französin Amalia Karlowna
Guichard, mit ihren beiden Kindern, dem Sohn Rodion und der Tochter Lara, vom
Ural nach Moskau. Den Sohn gab sie ins Kadettenkorps, die Tochter in ein
Mädchengymnasium; diese kam zufällig in dieselbe Klasse, die auch Nadja
Kologriwowa besuchte.
Madame Guichard hatte von
ihrem Mann Ersparnisse in Form von Wertpapieren, die früher gestiegen waren,
jetzt aber zu fallen begannen. Um das Dahinschmelzen ihrer Mittel zu stoppen
und nicht mit den Händen im Schoß dazusitzen, erwarb sie ein kleines Geschäft,
die Schneiderwerkstatt Lewizkaja unweit des Triumphbogens, sie kaufte es den
Erben der Schneiderin ab mitsamt dem Recht, den Firmennamen beizubehalten,
mitsamt dem Kundenkreis sowie den Modistinnen und Lehrlingen.
Madame Guichard hatte diesen
Kauf auf den Rat des Advokaten Komarowski getätigt, der ein Freund ihres Mannes
und auch ihr eine Stütze war, ein kaltblütiger Handelsmensch, der das
Geschäftsleben in Rußland kannte wie seine fünf Finger. Mit ihm hatte sie wegen
des Umzugs korrespondiert, er holte sie vom Bahnhof ab und fuhr mit ihnen durch
ganz Moskau zu dem Hotel »Tschernogorija« in der Orushejny-Gasse, wo er für sie
ein Zimmer reserviert hatte. Er hatte ihr auch empfohlen, Rodion ins
Kadettenkorps und Lara ins Gymnasium zu geben, und er scherzte unaufmerksam mit
dem Jungen und sah das Mädchen so an, daß es errötete.
Bevor sie in die kleine
Dreizimmerwohnung neben der Schneiderei zogen, wohnten sie einen Monat im
»Tschernogorija«.
Dies war die verrufenste
Gegend von Moskau, die Gegend der Kutscher und Spelunken; ganze Straßen lebten
von der Prostitution, es war das Elendsviertel der »Verlorenen«.
Die Kinder wunderten sich
nicht über den Schmutz in den Zimmern, über die Wanzen und die ärmlichen Möbel.
Seit dem Tode ihres Vaters lebte die Mutter in der ewigen Angst zu verarmen.
Rodion und Lara hörten immer wieder, daß sie am Rande des Abgrunds stünden, und
hatten sich daran gewöhnt. Sie wußten, daß sie keine Kinder der Straße waren,
doch tief in ihnen saß, wie bei Waisenhauskindern, die Scheu vor den Reichen.
Ein lebendiges Beispiel für
diese Angst gab ihnen die Mutter. Sie war eine üppige Blondine um die
Fünfunddreißig, deren Herzanfälle mit Anwandlungen von Dummheit wechselten. Sie
war schrecklich feige und hatte vor den Männern eine Todesangst. Ebendeshalb,
vor Schreck und Verwirrung, fiel sie aus einer Umarmung in die nächste.
Sie bewohnten im
»Tschernogorija« das Zimmer dreiundzwanzig, und nebenan in der Vierundzwanzig
wohnte, seit das Hotel bestand, der Violoncellist Tyschkewitsch, ein leicht
schwitzender, kahlköpfiger, gutmütiger Mensch, der eine Perücke trug und die
Hände wie betend zu falten und an die Brust zu drücken pflegte, wenn er
jemanden von etwas zu überzeugen suchte, und verdrehte, den Kopf im Nacken,
gefühlvoll die Augen, wenn er in einer Gesellschaft auftrat oder ein Konzert
gab. Er war selten zu Hause und hielt sich tagelang im Bolschoi-Theater oder im
Konservatorium auf. Die Nachbarn lernten sich kennen. Wechselseitige
Gefälligkeiten brachten sie einander näher.
Da die Kinder Madame Guichard
während der Besuche Komarowskis manchmal störten, überließ ihr Tyschkewitsch,
wenn er ging, den Schlüssel seines Zimmers, damit sie den Freund dort empfangen
konnte. Bald hatte sie sich an seine Opferbereitschaft so gewöhnt, daß sie ein
paarmal tränenüberströmt bei ihm klopfte und ihn um Schutz vor ihrem Gönner
bat.
Das Haus war ebenerdig und lag
unweit der Twerskaja-Straße. Man spürte die Nähe des Brester Bahnhofs. Gleich
nebenan befanden sich das Bahngelände, die Dienstwohnungen der Angestellten,
die Lokomotivendepots und die Speicher.
Hier war Olja Djomina zu
Hause, ein
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