Boris Pasternak
fertig.«
Sie verabschiedeten sich und
gingen auseinander.
Tiwersin stapfte auf dem Gleis
in Richtung der Stadt. Ihm entgegen kamen eine Menge Leute, die im Büro ihren
Lohn abgeholt hatten. Er schätzte, daß die Lohnzahlung auf dem Bahnhofsgelände
bald zu Ende sein mußte.
Die Dämmerung begann. Auf dem
freien Platz vor dem Büro standen Arbeiter herum, die nichts zu tun hatten,
beschienen von den Bürolaternen. Bei der Einfahrt zu dem Platz hielt Fuflygins
Kutsche. Frau Fuflygina saß in der gleichen Pose darin, als wäre sie seit dem
Morgen noch keinmal ausgestiegen. Sie wartete auf ihren Mann, der im Büro sein
Geld abholen wollte.
Auf einmal fiel nasser Schneeregen.
Der Kutscher kletterte vom Bock, um das Lederverdeck zu schließen. Während er,
einen Fuß gegen die Rückwand gestemmt, die Stangen auseinanderzog, betrachtete
Frau Fuflygina den silberperligen wäßrigen Brei, der im Licht der Bürolaternen
glitzerte. Ihr verträumter Blick glitt starr über die Arbeiter hinweg, als
könnte er notfalls unbeschadet durch sie hindurchgehen wie durch den Nebel oder
den Sprühregen.
Tiwersin fing diesen Blick
zufällig auf. Er war unangenehm berührt, darum trat er, ohne sich vor ihr zu
verbeugen, zurück und beschloß, seinen Lohn etwas später zu holen, um nicht im
Büro mit ihrem Mann zusammenzutreffen. Er ging in den schwächer beleuchteten
Bereich der Werkstätten, wo schwarz die Drehscheibe mit den auseinanderführenden
Gleisen zum Lokomotivendepot lag.
»Tiwersin! Kiprian!« riefen
ein paar Stimmen aus der Dunkelheit. Vor der Tür der Werkstatt stand ein
Häuflein Leute. Drinnen brüllte jemand, und man hörte ein Kind weinen. »Kiprian
Saweljewitsch, helfen Sie dem Jungen«, sagte eine Frau aus der Gruppe.
Der alte Meister Pjotr
Chudolejew verprügelte nach alter Gewohnheit wieder einmal sein Opfer, den
minderjährigen Lehrling Jussup.
Chudolejew war nicht immer der
Peiniger seiner Lehrlinge, der Säufer und Schläger gewesen. Einstmals hatten
die Töchter von Kaufleuten und Popen der Moskauer Manufakturviertel dem
stattlichen Gesellen verliebte Blicke zugeworfen. Aber Tiwersins Mutter, die
damals vor dem Abschluß der Diözesanschule stand und um die er sich bemühte,
gab ihm einen Korb und heiratete seinen Kumpel, den Lokmeister Saweli Tiwersin.
Im sechsten Jahr ihrer
Witwenschaft nach Tiwersins grauenhaftem Tod (er verbrannte 1888 beim
Zusammenstoß zweier Züge, der damals viel Aufsehen erregte) erneuerte
Chudolejew seine Werbung, und wieder gab ihm Marfa Tiwersina einen Korb.
Seither trank Chudolejew und wütete gegen alle Welt, der er die Schuld gab an
seinen heutigen Mißhelligkeiten.
Jussup war der Sohn
Himasetdins, des Hausmeisters in dem Haus, in dem Tiwersin wohnte. Er nahm den
Jungen unter seine Obhut. Das trug ihm die Feindseligkeit Chudolejews ein.
»Wie hältst du die Feile, du
Asiat«, brüllte Chudolejew, zerrte Jussup an den Haaren und prügelte auf ihn
ein. »Feilt man denn so den Grat von den Gußstücken? Du verdirbst mir ja die
ganze Arbeit, du Tataren-Balg, Allah-Mullah-Schlitzauge!«
»Au, ich tu's nie wieder,
Onkelchen, au, ich tu's nie wieder, au, tut weh!«
»Ich hab dir schon tausendmal
gesagt, führ erst die Spindel nach vorn und schraub erst dann den Anschlagring
fest, aber nein, du weißt es ja besser. Du hättest mir beinah die Spindel
zerbrochen, du Hundesohn.«
»Ich hab die Spindel nicht
angerührt, Onkelchen, bestimmt nicht!«
»Warum tyrannisierst du den
Jungen?« fragte Tiwersin, nachdem er sich durch die Menge gedrängt hatte.
»Wenn sich zwei Hunde beißen,
soll sich ein dritter nicht einmischen«, fuhr Chudolejew ihn an.
»Ich will wissen, warum du den
Jungen tyrannisierst!«
»Und ich sage dir,
verschwinde, du Mitleidsapostel. Ihn umzubringen war noch zu wenig, diesen
Dreckskerl, der hätte mir beinah die Spindel zerbrochen. Er soll mir die Hände
küssen, daß er noch lebt, der scheeläugige Satan, ich hab ihm ja bloß die Ohren
langgezogen und an den Haaren gezerrt.«
»Und dafür müßte man ihm den
Kopf abreißen, Onkel Chudolejew? Schäm dich was, wirklich wahr. Ein alter
Meister, graue Haare, aber kein Verstand.«
»Hau ab, sag ich dir, hau ab,
solange du noch heil bist! Ich schlag dir die Seele aus dem Leib, wenn du mich
hier belehren willst, du Hundearsch! Dich haben sie auf den Schwellen gezeugt,
du Fischblut, und dein Vater hat zugesehen. Ich kenn doch deine Mutter, diese
räudige Katze mit nassem Schwanz und zerlumptem Rock!«
Was nun
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