Boris Pasternak
geschah, dauerte nur
eine Minute. Beide griffen nach dem erstbesten, was an schwerem Werkzeug und an
Eisenstücken auf den Werkbänken herumlag, und sie würden sich gegenseitig
totgeschlagen haben, wären nicht sofort Leute dazwischengegangen, um sie zu
trennen. Chudolejew und Tiwersin standen da, den Kopf gesenkt und einander fast
mit der Stirn berührend, bleich, mit blutunterlaufenen Augen. Vor Erregung
brachte keiner ein Wort heraus. Sie wurden von hinten an den Armen
festgehalten. Minutenlang versuchten sie mit aller Kraft, sich loszureißen,
wanden sich und schleppten die an ihnen hängenden Kameraden hinter sich her. Von
ihren Sachen sprangen Knöpfe und Haken ab, Jacken und Hemden rutschten von den
entblößten Schultern. Der Lärm ringsum wollte nicht aufhören.
»Den Meißel! Nimm ihm den
Meißel weg, er schlägt ihm den Schädel ein.« — »Sachte, sachte, Onkel Pjotr,
wir kugeln dir den Arm aus!« - »Was machen wir mit ihnen soviel Federlesens?
Auseinander mit ihnen, hinter Schloß und Riegel, dann hat sich's.«
Plötzlich schüttelte Tiwersin
mit einer übermenschlichen Anstrengung den Knäuel Leiber ab, riß sich los und
war mit ein paar Sprüngen an der Tür. Sie rannten ihm nach, doch als sie sahen,
daß er anderes im Sinn hatte, ließen sie ihn laufen. Er ging hinaus, knallte
die Tür zu und entfernte sich, ohne sich umzudrehen. Um ihn war herbstliche
Nässe, war Nacht und Dunkelheit. »Du willst ihnen Gutes tun, und sie jagen dir
ein Messer zwischen die Rippen«, knurrte er und wußte nicht, wohin er ging und
wozu.
Diese Welt der Falschheit und
Gemeinheit, in der eine feiste Gnädige es wagte, die dummen Arbeiter so
anzusehen, und ein versoffenes Opfer dieser Zustände Vergnügen daran fand,
gegen seinesgleichen Gewalt zu gebrauchen, diese Welt war ihm jetzt verhaßt wie
nie zuvor. Er lief, als könnte er so die Zeit schneller heranholen, in der es
auf der Welt vernünftig und harmonisch zuginge wie jetzt in seinem erhitzten
Kopf. Er wußte, daß ihre Bemühungen der letzten Tage, das Durcheinander auf der
Strecke, die Diskussionen bei den Zusammenkünften und ihr Streikbeschluß, der
zwar noch nicht in Kraft, aber auch nicht aufgehoben war, daß all das einzelne
Schritte auf einem langen Weg waren, der ihnen noch bevorstand.
Seine Erregung hatte jetzt
einen solchen Grad erreicht, daß er nicht mehr warten konnte und die Entfernung
mit einem Satz hinter sich bringen wollte, ohne Atem zu holen. Er hatte keine
Vorstellung, wohin er hastete, aber seine Beine wußten bestens, wohin sie ihn
trugen.
Tiwersin ahnte lange nicht,
daß auf der Sitzung in der Erdhütte, nachdem er und Antipow sie verlassen
hatten, der Beschluß gefaßt worden war, den Streik noch am selben Abend
auszurufen. Die Komiteemitglieder verteilten sogleich die Aufgaben unter sich
und legten fest, wer sich wohin begeben und wer von wo abgezogen werden sollte.
Als vom Ausbesserungswerk, wie aus dem Grunde der Seele, heiser, allmählich
klarer und gleichmäßiger werdend, die Sirene ertönte, bewegte sich schon vom
Einfahrtsignal her eine Menschenmenge aus dem Depot und vom Güterbahnhof in
Richtung der Stadt und vereinigte sich mit einer weiteren Menschenmenge, die
auf das Signal hin die Arbeit niedergelegt hatte.
Tiwersin glaubte noch
jahrelang, er wäre es gewesen, der in dieser Nacht die Arbeit und den Verkehr
auf der Strecke zum Erliegen gebracht hatte. Erst die späteren Prozesse, bei
denen er wegen zahlreicher Anklagepunkte verurteilt wurde, nicht jedoch wegen
Aufwiegelung zum Streik, klärten ihn über seinen Irrtum auf.
Menschen kamen herausgelaufen,
fragten: »Wohin pfeifen sie die Leute?« Aus der Dunkelheit wurde geantwortet:
»Du bist ja wohl nicht taub. Hörst doch, Alarm. Es brennt.« — »Wo denn?« — »Es muß
ja brennen, wenn sie pfeifen.«
Türen klappten, immer mehr
Menschen kamen heraus. Andere Stimmen ertönten: »Was du redest, es brennt!
Dummer Bauer! Hört nicht auf ihn. Das bedeutet, Schluß mit der Arbeit, kapiert?
Hier die Fesseln, weg mit ihnen, ich will dir nicht länger dienen. Ab nach
Hause, Jungs.«
Immer mehr Menschen strömten
zusammen. Die Eisenbahn streikte.
Drei Tage später kam Tiwersin
durchgefroren, todmüde und unrasiert nach Hause. In der letzten Nacht hatte
Frost eingesetzt, viel zu früh für die Jahreszeit, und Tiwersin trug
Herbstsachen. An der Haustür traf er den Hausmeister Himasetdin.
»Danke, Herr Tiwersin«,
radebrechte dieser. »Sie Jussup nicht lassen Böses tun,
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