Boris Pasternak
aber führt die Taiga keinen Krieg gegen Warykino. Ich
fahre fort. Die anderen Schwestern Tunzewa, Awerki Mikulizyns Schwägerinnen,
leben bis heute in Jurjatin. Sie sind alte Jungfern. Die Zeiten haben sich
geändert, die Mädchen auch.
Die
Älteste der drei, Jewdokija, ist Bibliothekarin in der städtischen Lesestube.
Ein liebes, schwarzhaariges Fräulein, unglaublich leicht zu verwirren. Aus dem
Nichts errötet sie wie eine Pfingstrose. In der Lesestube herrscht eine
gespannte Grabesstille. Sie leidet an chronischem Schnupfen, und wenn sie bis
zu zwanzigmal hintereinander niest, möchte sie vor Scham in den Erdboden
versinken. Nichts zu machen, das kommt von den Nerven.
Die
Mittlere, Glafira, ist der Segen der Schwestern. Ein energisches Mädchen und
eine tüchtige Arbeiterin. Keine Arbeit ist ihr zu schlecht. Es herrscht
einhellig die Meinung, daß der Partisanenführer Lesnych nach dieser Tante
kommt. Sie hat in einem Schneidereiartel und als Strumpfwirkerin gearbeitet.
Und ehe man sich's versah, war sie auf einmal Frisöse. Haben Sie auf die
Weichenstellerin in Jurjatin geachtet, die uns mit der Faust gedroht hat?
Donnerwetter, hab ich mir gedacht, jetzt ist Glafira auf einmal
Weichenstellerin. Aber ich glaube, sie war es nicht. Die Frau war zu alt.
Die
Jüngste, Serafima, ist das Kreuz der Familie, eine Heimsuchung. Das Mädchen ist
gebildet und belesen. Sie hat sich mit Philosophie befaßt und liebt Gedichte.
Aber in den Jahren der Revolution, unter dem Einfluß der allgemeinen gehobenen
Stimmung, der Straßenumzüge, der Reden, die auf den Plätzen gehalten wurden,
ist sie übergeschnappt und in religiösen Wahnsinn verfallen. Wenn die
Schwestern zur Arbeit gehen, schließen sie die Tür ab, aber sie wutscht durchs
Fenster, läuft durch die Straßen, fuchtelt herum, sammelt Publikum um sich,
verkündet das Jüngste Gericht und das Ende der Welt. Aber ich habe mich verplaudert,
wir sind gleich auf meiner Station. Sie müssen die nächste raus. Machen Sie
sich fertig.«
Nachdem
Samdewjatow ausgestiegen war, sagte Tonja: »Ich weiß nicht, wie du das siehst,
aber ich finde, diesen Mann hat uns das Schicksal zugeführt. Ich glaube, er
wird in unserm Leben noch eine Wohltäterrolle spielen.«
»Durchaus
möglich, Tonja, aber mich freut nicht, daß man dich an der Ähnlichkeit mit
deinem Großvater Krüger erkennt und daß ihn hier alle in guter Erinnerung haben.
Auch Strelnikow, kaum daß ich Warykino erwähnte, warf giftig ein: >Warykino,
die ehemaligen Werke der Krügers. Wohl verwandt mit denen? Erben?< Ich
fürchte, wir werden hier mehr auffallen als in Moskau, von wo wir geflohen
sind, um die Unauffälligkeit zu suchen.
Jetzt ist
natürlich nichts mehr zu machen. Wer den Kopf verloren hat, braucht sich um
seine Haare nicht mehr zu sorgen. Aber wir wollen lieber die Öffentlichkeit
meiden, uns zurückziehen, uns still verhalten. Ich habe überhaupt ein ungutes
Vorgefühl. Laß uns unsere Leute wecken, wir müssen packen, alles
zusammenschnallen, wir steigen ja gleich aus.«
Tonja
stand auf dem Bahnsteig von Torfjanaja und zählte zum zigsten Male die Familie
und die Gepäckstücke, um sich zu vergewissern, daß sie nichts im Zug vergessen
hatten. Ihre Füße spürten den festgestampften Sand des Bahnsteigs, aber die
Furcht, an der richtigen Station vorbeizufahren, hatte sie noch nicht
verlassen, und das Rattern des rollenden Zugs klang ihr noch in den Ohren,
obwohl sie sich durch den Augenschein überzeugen konnte, daß er vor ihr am
Bahnsteig stand. Das hinderte sie, etwas zu sehen, zu hören oder zu denken.
Ihre
Reisegefährten verabschiedeten sich von der Höhe des Güterwaggons herab. Tonja
nahm sie nicht wahr. Sie merkte auch nicht, wie der Zug abfuhr, und entdeckte
sein Verschwinden erst, als sie auf einmal das zweite Gleis und dahinter das
grüne Feld und den blauen Himmel sah.
Das
Stationsgebäude war aus Steinen gemauert. Rechts und links von seinem Eingang
stand je eine Bank. Die Reisenden aus dem Moskauer Stadtteil Siwzew Wrashek
waren als einzige hier ausgestiegen. Sie stellten die Sachen ab und setzten
sich auf eine der Bänke.
Sie waren
verblüfft über die Stille, Menschenleere und Sauberkeit der Station. Es kam
ihnen ungewohnt vor, daß es hier kein Gedränge und kein Gefluche gab. Das Leben
war in diesem Krähwinkel hinter der Geschichte zurückgeblieben. Die
Verwilderung der Hauptstadt hatte ihn noch nicht ereilt.
Die
Station lag in einem Birkenwäldchen verborgen. Im Zug war
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