Boris Pasternak
es schon dunkel
geworden, als er hier einfuhr. Über Hände und Gesichter, über den feuchten
gelben Sand des Bahnsteigs, über die Erde und die Dächer huschten die Schatten
der wogenden Birkenwipfel. Das Zwitschern der Vögel paßte zu der Frische des
Wäldchens. So rein wie die Unwissenheit erfüllten die vollen Töne den Wald und
durchdrangen ihn ganz. Durch den Wald schnitten sich die Eisenbahn und eine
Schneise, und die Bäume verhängten beide gleichermaßen mit ihren wehenden,
herabhängenden Zweigen wie mit den Enden weiter, bis zum Boden reichender
Ärmel.
Plötzlich
waren Tonjas Augen und Ohren wieder offen. Alles rückte auf einmal in ihr
Bewußtsein: das Vogelkonzert, die Reinheit dieser Waldeseinsamkeit, die
Friedlichkeit der vergossenen Stille ringsum. In ihrem Kopf formte sich der
Satz: »Ich konnte nicht glauben, daß wir heil ans Ziel gelangen. Verstehst du,
dein Strelnikow hätte ja auch, nachdem er dich großzügig hatte gehen lassen,
den Befehl hierher telegrafieren können, uns alle beim Aussteigen festzunehmen.
Ich glaube nicht an den Edelmut von denen, mein Lieber. Das ist alles nur zum
Schein.« Statt dessen sagte sie etwas anderes. »Wie schön«, entfuhr es ihr
angesichts des Zaubers rundum. Weiter brachte sie nichts hervor. Tränen würgten
sie. Sie weinte laut.
Ihr
Schluchzen wurde gehört, und aus dem Gebäude kam der alte Stationsvorsteher. Er
trippelte zu der Bank, legte höflich die Hand an den Schirm der Uniformmütze
mit dem roten Deckel und fragte: »Vielleicht soll ich dem Fräulein
Beruhigungstropfen aus der Bahnhofsapotheke holen?«
»Danke. Es
ist nichts. Das geht vorüber.«
»Die
Sorgen und Unruhen der Reise. Man kennt das, es ist verbreitet. Dazu diese
afrikanische Hitze, selten in unseren Breiten. Und obendrein die Ereignisse in
Jurjatin.«
»Wir haben
im Vorbeifahren Brände gesehen.«
»Dann müssen
Sie wohl aus Rußland kommen, wenn ich mich nicht irre.«
»Ja, aus
der Stadt der Weißen Steine.«
»Sie sind
Moskauer? Dann ist es kein Wunder, daß die Nerven der gnädigen Frau nicht in
Ordnung sind. Dort soll ja kein Stein mehr auf dem andern stehen.«
»Das ist
übertrieben. Aber wir haben wirklich eine Menge gesehen. Das hier ist meine
Tochter, das mein Schwiegersohn. Das ist unser Kleiner. Und dies ist unsere
junge Kinderfrau Njuscha.«
»Guten
Tag, guten Tag. Sehr angenehm. Ich bin teilweise informiert. Anfim
Jefimowitsch Samdewjatow hat mich von der Station Sakma über das
Streckentelefon angeläutet. Doktor Shiwago kommt mit seiner Familie aus
Moskau, hat er gesagt, bitte unterstützen Sie ihn, so gut Sie können. Dieser
Doktor sind wohl Sie?«
»Nein,
Doktor Shiwago ist mein Schwiegersohn, ich arbeite auf dem Gebiet der
Landwirtschaft. Professor der Agronomie Gromeko.«
»Ach,
Verzeihung, ich habe mich vertan. Entschuldigen Sie. Sehr erfreut, Sie
kennenzulernen.«
»Nach
Ihren Worten zu urteilen, kennen Sie Samdewjatow?«
»Wie
sollte ich ihn nicht kennen, er ist ein Zauberer, unsere Hoffnung, unser
Ernährer. Ohne ihn hätten wir hier längst alle viere von uns gestreckt. Ja, er
hat gesagt, bitte unterstützen Sie ihn, so gut Sie können. Mach ich, hab ich
gesagt. Ich hab's ihm versprochen. Also, wenn Sie ein Pferdchen brauchen oder
wenn ich Ihnen sonst irgendwie helfen kann? Wo möchten Sie hin?«
»Nach
Warykino. Ist das weit von hier?«
»Nach
Warykino? Ich überlege die ganze Zeit, an wen Ihre Tochter mich erinnert. Nach Warykino
wollen Sie! Dann ist alles klar. Iwan Ernestowitsch Krüger und ich haben diese
Strecke gebaut. Gleich kümmere ich mich um alles, ich hole einen Mann, wir
besorgen ein Fuhrwerk. Donat! Donat! Trag die Sachen einstweilen in den
Warteraum. Wie sieht's mit einem Pferd aus? Lauf in die Teestube, mein Lieber,
und frag, ob's einer macht. Heute früh ist Wakch hier aufgetaucht. Frag ihn, ob
er fährt. Sag ihm, es sind vier Reisende nach Warykino zu bringen, das Gepäck
ist nicht der Rede wert. Sie sind eben angekommen. Beeil dich. Und Ihnen gebe
ich einen väterlichen Rat, gnädige Frau. Ich frage absichtlich nicht nach dem
Grad Ihrer Verwandtschaft mit Iwan Ernestowitsch Krüger, aber seien Sie in
dieser Beziehung vorsichtig. Man kann nicht mit jedem offen reden. Bedenken
Sie, was wir für Zeiten haben.«
Bei dem
Namen Wakch wechselten die Reisenden verwunderte Blicke. Sie erinnerten sich
an die Erzählungen von Tonjas verstorbener Mutter Anna Iwanowna über den
sagenhaften Schmied, der sich unverwüstliche Eingeweide aus
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