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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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Bittgebet geschickt, das wird in den Wechselgesang eingeschlossen, oder
überhaupt ein Gebet, für sein Wohl vielleicht, was weiß ich. Prow hat's mir
gesagt, aber es ist mir entfallen.«
     
    Pawluscha Antipow, der Sohn
des Verhafteten und der im Krankenhaus liegenden Darja, zog zu den Tiwersins.
Er war ein reinlicher Junge mit regelmäßigen Gesichtszügen und hellbraunen,
gerade gescheitelten Haaren. Er bürstete sie aller naselang und zog dauernd die
Jacke und den Gürtel mit der Uniformschnalle der Realschule zurecht. Pawluscha
konnte Tränen lachen und hatte eine gute Beobachtungsgabe. Sehr treffend und
komisch ahmte er alles nach, was er sah und hörte.
    Bald nach dem Manifest des
siebzehnten Oktober sollte eine große Demonstration vom Twerskaja- zum
Kalushskaja-Tor ziehen. Es war ein Vorhaben nach dem Sprichwort »Viele Köche
verderben den Brei«. Mehrere revolutionäre Organisationen, die an dem Vorhaben
beteiligt waren, zerstritten sich und traten nach und nach davon zurück, doch
als sie erfuhren, daß die Menschen an dem festgesetzten Morgen dennoch auf die
Straße gingen, entsandten sie in aller Eile Vertreter zu den Demonstranten.
    Obwohl Kiprian seiner Mutter
dringend abgeraten hatte, ging sie mit dem lustigen und umgänglichen Pawluscha
zu der Demonstration.
    Es war ein trockener,
frostklarer Tag Anfang November mit einem ruhigen bleigrauen Himmel und
vereinzelten, fast zählbaren Schneeflocken, die lange in der Luft gaukelten,
bevor sie zu Boden fielen und sich als flauschig grauer Staub in den Fahrspuren
festsetzten.
    Das Volk drängte die Straße
hinunter; dichtes Stimmengewirr, Gesichter über Gesichter, wattierte
Wintermäntel und Schaffellmützen, alte Leute, Hochschülerinnen und Kinder,
Eisenbahner in Uniform, Arbeiter vom Straßenbahndepot und von der
Telefonstation in Stiefeln bis über die Knie und Lederjacken, Gymnasiasten und
Studenten.
    Eine Zeitlang sangen sie die
»Warschawianka«, »Unsterbliche Opfer« und die »Marseillaise«, aber dann setzte
der Mann, der rückwärts vor dem Zug herging und mit geschwenkter Lammfellmütze
den Gesang dirigierte, die Mütze auf, stellte den Vorgesang ein, kehrte dem Zug
den Rücken und horchte auf das, was die anderen Ordner sagten, die
nebenherschritten. Das Singen zerbröckelte und brach ab. Man hörte das
Füßescharren der unübersehbaren Menge auf dem gefrorenen Pflaster.
    Wohlwollende meldeten den
Initiatoren des Zuges, daß weiter vorn Kosaken auf die Demonstranten lauerten.
Die Nachricht von dem Hinterhalt war telefonisch an eine in der Nähe gelegene
Apotheke durchgegeben worden.
    »Wenn's so ist«, sagten die
Ordner, »dann vor allem kaltes Blut wahren und nicht in Panik geraten. Wir
müssen sofort das erstbeste öffentliche Gebäude besetzen, die Leute vor der
drohenden Gefahr warnen und einzeln auseinandergehen lassen.«
    Sie stritten darüber, welches
Haus am besten geeignet wäre. Die einen schlugen die Gesellschaft der
Kaufmannsgehilfen vor, andere die Technische Hochschule, noch andere das
Institut für Auslandskorrespondenten.
    Während sie noch stritten, kam
vorn die Ecke eines staatlichen Gebäudes in Sicht. Darin befand sich auch eine
Lehranstalt, die nicht schlechter als die genannten zur Zuflucht taugte.
    Als der Zug das Gebäude
erreicht hatte, stiegen die Anführer die halbrunde Freitreppe hinauf und gaben
das Zeichen zum Halt. Die mehrflügeligen Türen wurden geöffnet, und der Zug
strömte Pelz an Pelz, Mütze an Mütze in das Vestibül der Schule und die
Vordertreppe hinauf.
    »In den Festsaal, in den
Festsaal!« riefen einzelne Stimmen von hinten, aber die Menge zog weiter,
verteilte sich auf die langen Korridore und Klassenräume.
    Nachdem es doch gelungen war,
die Menge zurückzuholen, und alle in den Stuhlreihen Platz genommen hatten,
versuchten die Anführer ein paarmal, die Versammelten über die weiter vorn
aufgebaute Falle zu unterrichten, aber niemand hörte zu. Der Halt und der
Einzug in den geschlossenen Raum wurden als Einladung zu einem improvisierten
Meeting aufgefaßt, das auch sogleich begann.
    Nach dem langen Gehen und
Singen wollten die Leute gern ein wenig schweigend dasitzen; mochten andere
sich jetzt die Kehle schinden. Verglichen mit dem Vergnügen, sich ausruhen zu
können, waren die geringfügigen Unstimmigkeiten unter den Rednern gleichgültig,
da sie in fast allem solidarisch miteinander waren.
    Darum hatte den größten Erfolg
der schlechteste Redner, der seine Zuhörer nicht mit dem

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