Boris Pasternak
ich immer werden für
Sie beten.«
»Bist du verrückt, Himasetdin,
seit wann bin ich ein Herr? Laß das bitte. Und beeil dich, du siehst ja, wie
kalt es ist.«
»Nicht kalt, du warm, Kiprian.
Gestern wir bringen deine Mutter von Moskau Güterbahnhof Schuppen voll Holz,
nur Birke, gute Holz, ganz trocken.«
»Danke, Himasetdin. Du willst
doch noch etwas sagen, mach's kurz, ich bin ganz durchgefroren, wie du siehst.«
»Ich wollen sagen, du nicht zu
Hause schlafen, Kiprian. Du lieber verstecken. Wachtposten kommen fragen,
Polizei kommen fragen, wer dich besucht. Ich sagen, keiner besucht. Gehilfe,
ich sagen, Lokomotivbrigaden kommen, Eisenbahner kommen, aber kein Fremder,
nein, nein!«
Das Haus, in dem der
Junggeselle Tiwersin mit seiner Mutter und seinem verheirateten Bruder wohnte,
gehörte der nahegelegenen Dreifaltigkeitskirche. Außer ihnen wohnten dort
Geistliche und Küster sowie zwei Arten von Obst- und Fleischhändlern, die ihre
Ware mit dem Bauchladen in der Stadt verkauften, ansonsten aber vorwiegend
kleine Angestellte der Moskau-Brester Eisenbahnstrecke.
Es war ein Steinhaus mit
hölzernen Galerien, die von allen vier Seiten auf den schmutzigen
ungepflasterten Hof blickten. Zu ihnen hinaufführten schmutzige, glitschige
Holztreppen. Hier roch es nach Katzen und Sauerkohl. An den Wänden der
Treppenabsätze klebten Abtritthäuschen und kleine Lagerschuppen mit
Vorhängeschloß.
Tiwersins Bruder war
eingezogen und bei Wafangkou verwundet worden. Er lag in einem Lazarett in
Krasnojarsk, und seine Frau war mit den beiden Töchtern hingefahren, um ihn zu
besuchen und ihn nach Hause zu holen. Die Tiwersins, eine alte
Eisenbahnerfamilie, reisten gern und bereisten ganz Rußland mit
Freifahrtkarten. Gegenwärtig waren alle ausgeflogen. Nur der Sohn und die Mutter
waren da.
Die Wohnung lag im ersten
Stock. Vor der Tür stand auf der Galerie eine Tonne, die ein Wasserträger mit
Wasser füllte. Als Kiprian seine Etage erreicht hatte, sah er, daß der Deckel
der Tonne zur Seite geschoben und auf der Eisschicht der Blechbecher angefroren
war.
Das muß Prow gewesen sein,
dachte Kiprian und lachte auf. Er kriegt nie genug, dieser Nimmersatt, dieser
Feuerschlund.
Prow Sokolow, Küster, ein
angesehener Mann in mittleren Jahren, war mit Kiprians Mutter entfernt
verwandt.
Kiprian riß den Becher von der
Eiskruste los, rückte den Deckel zurecht und zog den Griff der Türglocke.
Anheimelnder Geruch und eine lecker duftende Dampfwolke schlugen ihm entgegen.
»Sie haben stark geheizt,
Mutter. Wir haben es warm, das ist schön.«
Die Mutter fiel ihm um den
Hals und umarmte ihn weinend. Er streichelte ihr den Kopf, wartete einen Moment
und schob sie dann sanft weg.
»Die Stadt hat Mut gefaßt,
Mutter«, sagte er leise, »auf meiner Strecke ruht der Verkehr von Moskau bis
nach Warschau.«
»Ich weiß. Darum weine ich. Es
sieht nicht gut für dich aus. Du solltest weggehen, Kiprian, soweit wie möglich.«
»Ihr liebenswürdiger Freund
und Verehrer Chudolejew hätte mir beinahe den Schädel eingeschlagen.« Er wollte
sie damit aufheitern, doch sie verstand den Scherz nicht und antwortete
ernsthaft: »Mach dich nicht über ihn lustig, Kiprian. Er sollte dir lieber leid
tun. Er ist ein ausgemachter Pechvogel, eine verlorene Seele.«
»Sie haben Pawel Antipow
abgeholt. Mitten in der Nacht sind sie gekommen, haben Haussuchung gemacht und
alles umgewühlt. Am Morgen haben sie ihn abgeführt. Und das Schlimmste, seine Darja
liegt mit Typhus im Krankenhaus. Der kleine Pawluscha, der in die Realschule
geht, ist jetzt mit seiner tauben Tante allein im Haus. Man wird sie aus der
Wohnung jagen. Ich finde, wir sollten den Jungen zu uns nehmen. Warum ist Prow
vorbeigekommen?«
»Woher weißt du das?«
»Ich hab gesehen, das Faß war
nicht richtig zugedeckt, und der Becher stand auf dem Eis. Da hab ich mir
gedacht, bestimmt hat der ewig durstige Prow hier Wasser gesoffen.«
»Du bist ja richtig
scharfsinnig, Kiprian. Doch du hast ganz recht. Prow war hier. Er wollte sich
Brennholz borgen, ich hab ihm welches gegeben. Aber was red ich von Brennholz,
ich dumme Gans! Ich hab ja ganz vergessen, was für eine Neuigkeit er
mitgebracht hat. Der Gossudar, weißt du, hat ein Manifest unterschrieben, alles
wird anders; keiner soll mehr benachteiligt sein, die Bauern kriegen Land und
werden mit den Adligen gleichgestellt. Der Erlaß ist schon unterschrieben, denk
dir nur, er muß nur noch veröffentlicht werden. Und die Synode hat ein
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