Boris Pasternak
Straße hinweg wie von einem Kanalufer zum andern
zwiespältige Blicke zuwarf, teils entschlossen, ihn zu grüßen, wenn er sie
erkannte, teils bereit zu verzichten.
Doch
gleich darauf entsann er sich an alles. Mitten in dem Bild des überfüllten Güterwaggons,
der zur Zwangsarbeit Getriebenen, ihrer Bewacher und der Frau mit den über die
Brust fallenden Zöpfen sah er seine Angehörigen. Einzelheiten der Reise mit der
Familie vor zwei Jahren traten mit aller Deutlichkeit hervor. Die vertrauten
Gesichter, nach denen er tödliche Sehnsucht hatte, wuchsen lebendig vor ihm
auf.
Mit einer
Kopfbewegung gab er ihr zu verstehen, sie solle ein Stück die Straße
hinaufgehen bis zu einer Stelle, wo man sie auf Steinen überqueren konnte, ging
selbst dorthin, hinüber zu Frau Tjagunowa und begrüßte sie.
Sie hatte
viel zu erzählen. Nachdem sie ihn an den widerrechtlich zur Zwangsarbeit
verschleppten, unverdorbenen, schönen Jungen Wassja erinnert hatte, der mit ihnen
in dem Waggon gewesen war, beschrieb sie ihr Leben in dem Dorf Weretenniki bei
Wassjas Mutter. Dort war es ihr gut gegangen. Aber das Dorf war gegen sie
eingenommen, weil sie eine Fremde war. Man warf ihr vor, sie habe Wassjas
intime Nähe gesucht. Darum mußte sie abreisen, um nicht womöglich umgebracht zu
werden. In der Stadt Krestowosdwishensk ließ sie sich bei der Schwester von
Olga Galusina nieder. Gerüchte, in Pashinsk wäre Prituljew gesehen worden,
hatten sie hergelockt. Das erwies sich als unzutreffend, doch sie war hier
hängengeblieben und hatte auch Arbeit gefunden.
Inzwischen
waren die ihr nahestehenden Menschen in Weretenniki ins Unglück geraten. Von
dort kam die Nachricht, im Dorf habe wegen Ungehorsams gegen das
Lebensmittelablieferungsgesetz eine militärische Strafaktion stattgefunden.
Dabei sollte das Haus der Brykins niedergebrannt und jemand aus Wassjas Familie
umgekommen sein. In Krestowosdwishensk hatte man den Galusins Haus und Hof
weggenommen. Der Schwager saß im Gefängnis oder war erschossen worden. Der
Neffe Terescha war spurlos verschwunden. In der ersten Zeit danach litt Olga
Galusina große Not und hungerte. Und jetzt diente sie, nur für die Kost, bei
einer verwandten Bauernfamilie in Swonarskaja Sloboda.
Pelageja
Tjagunowa war zufällig Geschirrwäscherin in der Pashinsker Apotheke, deren
Bestände für den Arzt requiriert werden sollten. Alle, die von der Apotheke
lebten, auch sie, waren davon existentiell betroffen. Aber es stand nicht in
der Macht des Arztes, dies zu ändern. Frau Tjagunowa wohnte der Übergabe bei.
Das
Fuhrwerk des Arztes wurde auf den Hof der Apotheke zur Tür des Warenlagers
gefahren. Man trug Ballen, weidenumflochtene Glasballons und Kisten heraus.
Zusammen
mit den Menschen beobachtete die magere, räudige Mähre des Apothekers aus ihrer
Box traurig das Verladen. Der regnerische Tag neigte sich dem Abend zu. Der
Himmel klarte ein wenig auf. Für einen Moment zeigte sich die von Wolken
eingeklemmte untergehende Sonne. Ihre Strahlen spritzten wie dunkle Bronze in
den Hof und tauchten die Dunglachen in böses goldenes Licht. Der Wind vermochte
sie nicht zu bewegen, die dreckige Brühe war zu schwer. Dafür kräuselte sich
das Wasser auf der großen Straße und flimmerte zinnoberrot.
Das Heer
aber zog und zog die Straße entlang, umging und umfuhr die tiefsten Pfützen und
Schlaglöcher. Unter den beschlagnahmten Arzneimitteln befand sich ein Glasgefäß
voll Kokain, das der Partisanenführer in letzter Zeit schnupfte.
Bei den
Partisanen hatte der Arzt alle Hände voll zu tun. Im Winter Bauchtyphus, im
Sommer Dysenterie, außerdem mußte er nach den wiederaufgenommenen Kampfhandlungen
immer mehr Verwundete behandeln.
Ungeachtet
der Rückschläge und des fortgesetzten Rückzugs füllten sich die Reihen der
Partisanen in den Orten, durch die die Bauernscharen zogen, immer wieder mit
neuen Aufständischen und mit Überläufern aus dem gegnerischen Lager. In den
anderthalb Jahren, die der Arzt nun schon bei den Partisanen war, hatte sich
das Heer verzehnfacht. Als Liweri Mikulizyn auf der Sitzung des illegalen Stabs
in Krestowosdwishensk die Zahlenstärke seiner Truppen nannte, hatte er etwa um
das Zehnfache übertrieben. Jetzt würde die Zahl gestimmt haben.
Juri
Shiwago hatte ein paar Gehilfen, frischgebackene Sanitäter mit einiger
Erfahrung. Seine rechte Hand bei der ärztlichen Tätigkeit waren der ungarische
Kommunist und gefangene Militärarzt Lajos Kerenyi, den sie im Lager
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