Boris Pasternak
und feuerte nun auch Schuß um
Schuß.
Das
Mitleid aber verbot ihm, auf die jungen Leute zu zielen, die er gern sah und
mit denen er sympathisierte. Einfach in die Luft zu schießen jedoch wäre dumm
und müßig gewesen und würde seinen Absichten widersprochen haben. So wählte er
denn Momente, in denen zwischen ihm und seinem Ziel keiner der Angreifer war,
und schoß auf den verkohlten Baum.
Zielend
und das Ziel immer genauer anvisierend, zog er den Abzugsbügel bis zum
Druckpunkt durch, bis sich der Schuß gleichsam von selbst löste, und er schoß
mit gewohnter Treffsicherheit die unteren verdorrten Äste von dem Baum.
Doch
entsetzlich! Wie er sich auch bemühte, niemanden zu treffen, geschah es doch
ein paarmal, daß im Moment des Schusses einer der Angreifer die Ziellinie
kreuzte. Zwei von ihnen traf und verwundete er, den dritten Unglücklichen, den
er unweit des Baumes traf, kostete es das Leben.
Endlich
erkannte die Führung der Weißen die Sinnlosigkeit des Versuchs und ordnete den
Rückzug an. Die Partisanen waren nur wenige. Ihre Hauptkräfte befanden sich
teilweise auf dem Marsch, teilweise waren sie seitlich abgeschwenkt, um größere
Verbände des Gegners zu bekämpfen. Darum verfolgte die Abteilung die
zurückweichenden Weißen nicht, um nicht ihre geringe Zahl preiszugeben.
Der
Feldscher Angeljar führte zwei Sanitäter mit Tragen zum Waldrand. Der Arzt befahl
ihm, sich der Verwundeten anzunehmen, und ging zu dem reglos daliegenden
Telefonisten. Er hoffte vage, daß dieser noch lebte. Aber der Mann war tot. Um
sich dessen zu vergewissern, knöpfte ihm Doktor Shiwago das Hemd auf und
horchte an seiner Brust. Das Herz schlug nicht mehr.
Am Hals
des Toten hing ein Amulett an einer Schnur, Shiwago nahm es an sich. Darin fand
sich, in ein Läppchen genäht, ein vergilbtes und an den Faltstellen durchgewetztes
Stück Papier. Shiwago entfaltete die schon auseinanderfallenden Teile.
Das Papier
enthielt Auszüge aus dem einundneunzigsten Psalm mit den Veränderungen und
Abweichungen, die das Volk in die Gebete einbringt, so daß sie sich allmählich
vom Original entfernen. Der kirchenslawische Text war hier ins Russische übertragen.
In dem
Psalm heißt es: »Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt.« Auf dem Zettel war
daraus die Überschrift einer Beschwörungsformel geworden: »Der Höchste
beschirme dich.« Die Zeile des Psalms: »Daß du nicht erschrecken müssest... vor
den Pfeilen, die des Tages fliegen«, hatte sich in aufmunternde Worte
verwandelt: »Fürchte nicht den fliegenden Pfeil des Krieges.« - »Er kennt
meinen Namen, darum will ich ihn schützen«, heißt es im Psalm. Auf dem Zettel
stand: »In seinem Namen wird er mich schützen.«
Der Text
des Psalms galt als wundertätig und sollte gegen Kugeln feien. Schon im
letzten Krieg hatten die Soldaten ihn als Talisman getragen. Jahrzehnte später
trugen Häftlinge ihn eingenäht in ihren Kleidern und sprachen ihn vor sich hin,
wenn sie zu nächtlichen Verhören geholt wurden.
Von dem
Telefonisten ging Doktor Shiwago zu dem jungen Weißgardisten, den er getötet
hatte. Das schöne Gesicht des Jünglings zeigte Züge von Unschuld und alles
verzeihendem Leiden. Warum habe ich ihn getötet? dachte der Arzt.
Er knöpfte
den Uniformmantel des Toten auf und schlug ihn weit auseinander. In das Futter
hatte eine fleißige, liebende Hand, sicherlich die seiner Mutter, seinen Namen
eingestickt: Serjosha Ranzewitsch.
Aus
Serjoshas Hemdausschnitt rutschten an einem Kettchen ein kleines Kreuz, ein
Medaillon und ein flaches goldenes Futteral oder Döschen, das eine Beschädigung
aufwies, als hätte jemand einen Nagel in den Deckel geschlagen; das Döschen
stand halb offen. Heraus fiel ein gefalteter Zettel. Der Arzt entfaltete ihn
und traute seinen Augen nicht. Es war derselbe einundneunzigste Psalm, aber
gedruckt und in seiner kirchenslawischen Urform.
In diesem
Moment stöhnte Serjosha und streckte sich. Er lebte. Wie sich dann zeigte, war
er auf Grund einer inneren Prellung bewußtlos gewesen. Die Kugel hatte den
Deckel des Amuletts getroffen, und dieses hatte ihm das Leben gerettet. Aber
was war mit dem Bewußtlosen zu tun?
Die Roheit
der Kämpfenden hatte um diese Zeit ihren Höhepunkt erreicht. Gefangene erreichten
nicht lebend ihren Bestimmungsort, gegnerische Verwundete wurden gleich auf dem
Schlachtfeld erstochen.
Bei der
wechselnden Zusammensetzung der Waldarmee, in die immer wieder neue
Freiwillige eintraten, während länger
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