Boris Pasternak
Ihren Auslassungen über die sittliche
Erziehung der Soldaten heißt, dann lassen Sie mich gehen. Ich will meine
Angehörigen suchen, von denen ich nicht einmal weiß, ob sie noch leben und wo
sie sind. Wenn Sie das nicht wollen, dann lassen Sie mich gefälligst in Ruhe,
denn alles andere interessiert mich nicht, und ich kann nicht mehr für mich
bürgen. Ich habe ja wohl verdammt noch mal das Recht, einfach schlafen zu wollen!«
Doktor
Shiwago legte sich bäuchlings auf die Pritsche und vergrub das Gesicht ins
Kissen. Er gab sich alle Mühe, die Rechtfertigungen Liweris nicht zu hören, der
immer wieder beruhigend auf ihn einredete, im Frühjahr würden die Weißen ganz
sicher geschlagen. Der Bürgerkrieg würde zu Ende sein, und dann kämen
Freiheit, Wohlstand und Frieden. Dann würde niemand mehr wagen, den Arzt
festzuhalten. Bis dahin müsse er es freilich hinnehmen. Nach allem, was sie
durchgemacht hätten, nach so vielen Opfern und so geduldigem Warten werde man
nun nicht mehr lange warten müssen. Und wo wolle der Arzt jetzt auch hin? Um
seiner eigenen Sicherheit willen könne man ihn jetzt nicht gehen lassen!
Dieser
Satan, immer die alte Leier! Wie der die Zunge wetzt! Schämt er sich gar nicht,
so viele Jahre schon immer wieder denselben Priem zu kauen? Shiwago holte ärgerlich
tief Luft. Er hört sich gern reden, dieser Quatschkopf, dieser unglückliche
Kokainist. Die Nacht ist für ihn keine Nacht, er läßt einem keine Ruhe, der verdammte
Kerl. Wie ich ihn hasse! Weiß Gott, eines Tages bring ich ihn um.
Tonja,
mein armes Mädchen! Lebst du noch? Wo bist du? Ach Gott, du mußt ja schon
längst entbunden haben! Wie war die Geburt? Haben wir einen Jungen oder ein
Mädchen? Meine Lieben, wie geht es euch? Tonja, mein ewiger Vorwurf und meine
Schuld! Lara, ich habe Angst, deinen Namen zu nennen, um nicht mit deinem Namen
auf meinen Lippen meine Seele auszuhauchen. Mein Gott! Mein Gott! Und der Kerl
quatscht und quatscht und gibt keine Ruhe, diese verhaßte, fühllose Bestie!
Eines Tages halt ich's nicht mehr aus und bring ihn um, ich bring ihn um.
Der
Altweibersommer war vorüber. Nun kamen die klaren Tage des goldenen Herbstes.
An der westlichen Ecke des Fuchswerders stand der hölzerne Turm eines erhalten
gebliebenen Blockhauses der Freiwilligen. Hier wollte sich Juri Shiwago mit
seinem Assistenten, Doktor Lajos Kerenyi, treffen und ein paar Angelegenheiten
besprechen. In Erwartung des Gefährten ging er am Rande eines eingestürzten
Grabens auf und ab, stieg auf den Wachturm und blickte durch die leeren
Schießscharten der MG-Nester auf die unendlichen Wälder jenseits des Flusses.
Der Herbst
zeichnete die Grenze zwischen Laub- und Nadelwald schon recht deutlich. Der
letztere stand wie eine finstere, fast schwarze borstige Wand, während der
erste mittendrin in feuerroten Flecken leuchtete, als stünde dort eine alte
Stadt mit Zitadelle und Turmhäusern mit vergoldeten Dächern, erbaut aus
Stämmen, die an Ort und Stelle gefällt worden waren.
Die Erde
im Graben zu Füßen des Arztes und in den Fahrspuren des von den Morgenfrösten
gehärteten Waldweges trug eine dicke Schicht von kleinen, dürren, gleichsam
abgeschnittenen, zu Röhrchen gedrehten Blättern der kahl gewordenen Weide. Der
Herbst roch nach diesen bitteren braunen Blättern und nach vielen anderen
Kräutern. Shiwago atmete gierig das verwirrende Duftgemisch nach eiskalten
eingemachten Äpfeln, bitterer Trockenheit, süßer Feuchtigkeit und blauem
Septemberdunst, ähnlich dem Geruch eines mit Wasser gelöschten Brandes oder
Lagerfeuers.
Der Arzt
merkte gar nicht, das Lajos von hinten zu ihm trat.
»Guten
Tag, Kollege«, sagte er auf deutsch. Sie wandten sich gleich ihren
Angelegenheiten zu.
»Wir haben
drei Punkte. Die Schwarzbrenner, die Reorganisierung des Lazaretts und der
Apotheke und, das schlage ich vor, die ambulante Behandlung von Geisteskranken
unter marschmäßigen Bedingungen. Vielleicht halten Sie das nicht für notwendig,
aber nach meinen Beobachtungen sind wir alle drauf und dran, den Verstand zu
verlieren, mein lieber Lajos, und die Formen des zeitgenössischen Wahnsinns
sind Infektionen, sind ansteckend.«
»Eine sehr
interessante Frage. Ich komme nachher darauf zurück. Zunächst etwas anderes.
Im Lager gärt es. Die Leute sympathisieren mit den Schnapsbrennern. Außerdem
sind viele besorgt um ihre Familien, die vor den Weißen aus ihren Dörfern
geflohen sind. Ein Teil der Partisanen weigert sich, das Lager zu
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