Boris Pasternak
vom Feuer des Sonnenuntergangs durchleuchteten
abendlichen Wald. In solchen Momenten war ihm, als ließe auch er die
Lichtsäulen durch sich hindurch, als strömte die Gabe des lebendigen Geistes in
seine Brust, durchdränge ihn ganz und käme wie ein Flügelpaar unter den
Schulterblättern wieder nach draußen. Dieses Urbild aus der Jünglingszeit, das
sich in jedem Menschen formt, ihm später für immer dient und von ihm als sein
inneres Gesicht, seine Persönlichkeit empfunden wird, erwachte mit seiner
vollen ursprünglichen Kraft in ihm und bewog die Natur, den Wald, den
Sonnenuntergang und alles Sichtbare, sich in das ebenso ursprüngliche und
allumfassende Ebenbild eines Mädchens zu verwandeln. »Lara!« wandte er sich mit
geschlossenen Augen flüsternd oder auch nur in Gedanken an sein ganzes Leben,
die ganze Welt Gottes, den ganzen, von der Sonne beschienenen Raum, der sich
vor ihm ausbreitete.
Aber der
Alltag holte ihn wieder ein, in Rußland hatte die Oktoberrevolution
stattgefunden, und er befand sich bei den Partisanen. Ohne es zu merken, trat
er zu Kamennodworski ans Feuer.
»Sie
verbrennen den Schriftverkehr? Jetzt erst?«
»Naja! Von
dem Zeug ist ein Haufen da.«
Mit der
Stiefelspitze stieß der Arzt einen Papierstoß auseinander. Es waren
Stabstelegramme der Weißen. Da kam ihm die trübe Vermutung, in den Papieren
könnte er auf den Namen Ranzewitsch stoßen, doch das war trügerisch. Sie war
uninteressant, diese Sammlung von chiffrierten Berichten in unverständlichen
Kürzeln aus dem Vorjahr, so wie die folgende Mitteilung: »Omsk Genquart Kopie
an Befehlshab Omsk Stachef Omsker Militbez Karte vierzig Werst Jenissej-Reg
nicht eingetroffen.«
Er
scharrte mit dem Fuß einen anderen Stoß auseinander. Es waren Protokolle von
Partisanenversammlungen. Obenauf lag ein Papier: »Äußerst dringend. Betrifft Urlaub.
Neuwahlen der Mitglieder für die Revisionskommission. Laufendes. In Anbetracht
der unbewiesenen Beschuldigungen gegen die Lehrerin aus dem Dorf Ignatodworzy
beschließt der Armeesowjet... «
Kamennodworski
holte ein Papier aus der Tasche, gab es dem Arzt und sagte: »Hier ist die
Inventarliste Ihrer medizinischen Abteilung für den Fall, daß wir das Lager
verlassen. Die Fuhrwerke mit den Partisanenfamilien sind nicht mehr weit. Die
Unstimmigkeiten im Lager werden heute beigelegt. Wir können jederzeit aufbrechen.«
Der Arzt
warf einen Blick auf das Papier und ächzte.
»Das ist
ja noch weniger als letztes Mal. Dabei sind so viele Verwundete hinzugekommen!
Die Leichtverwundeten können zu Fuß gehen. Aber sie sind in der Minderheit.
Womit soll ich die schweren Fälle transportieren? Und die Medikamente, die
Pritschen, die Ausrüstung?«
»Sie
müssen sich irgendwie einschränken. Man hat sich den Umständen anzupassen.
Jetzt etwas anderes. Eine Bitte von allen an Sie. Wir haben einen gestählten,
erprobten, der Sache treu ergebenen und tapferen Kämpfer. Mit dem stimmt was
nicht.«
»Palych.
Lajos hat's mir schon gesagt.«
»Ja. Gehen
Sie zu ihm. Untersuchen Sie ihn.«
»Etwas
Psychisches?«
»Ich
nehm's an. Er sieht irgendwelche Gespenster, wie er sagt. Vermutlich
Halluzinationen. Schlaflosigkeit. Kopfschmerzen.«
»Gut. Ich
gehe gleich hin. Ich habe grade Zeit. Wann fängt die Versammlung an?«
»Ich
denke, man versammelt sich bereits. Aber was wollen Sie dort? Sie sehen, ich
geh auch nicht hin. Die kommen ohne uns aus.«
»Dann geh
ich jetzt zu Palych. Dabei bin ich müde zum Umfallen. Liweri liebt es, nachts
zu philosophieren und mir die Ohren vollzureden. Wo finde ich Palych? Wo ist er
untergebracht?«
»Sie
kennen das Birkenwäldchen hinter der Steingrube? Im Birkenwäldchen.«
»Ich werde
es finden.«
»Auf der
Lichtung dort stehen die Kommandeurszelte. Eines davon haben wir ihm gegeben.
Er wartet auf seine Familie. Seine Frau und die Kinder kommen mit dem Treck.
Ja, in einem der Kommandeurszelte ist er. Wie ein Bataillonskommandeur. Für
seine revolutionären Verdienste.«
Auf dem
Weg zu Pamfil Palych merkte Doktor Shiwago, daß er sich kaum noch auf den
Beinen halten konnte. Die Müdigkeit war zu groß. Er kam nicht mehr dagegen an,
es war eine Folge der schlaflosen Nächte. Nun hätte er in seinen Unterstand
gehen und eine Runde schlafen können. Aber das wollte er nicht, denn womöglich
kam Liweri und störte ihn.
Auf einer
Lichtung, die mit dem abgefallenen goldenen Laub der umstehenden Bäume bedeckt
war, legte er sich hin. Die Blätter bildeten ein
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