Boris Pasternak
weiß.
Die beiden Schwestern leben zusammen mit der Ältesten, Agrippina, der
Bibliothekarin. Es ist eine ehrliche, arbeitsame Familie. Ich möchte die
Schwestern bitten, im schlimmsten Falle, wenn wir beide verhaftet werden,
Katenka zu sich zu nehmen, in ihre Obhut. Aber ich habe mich noch nicht fest
entschlossen.«
»Aber
wirklich nur, wenn es gar keinen anderen Ausweg gibt. Wenn Gott will, ist es
bis zu solch einem Unglück noch lange hin.«
»Serafima
soll ja nicht ganz bei sich sein. Wirklich, eine ganz normale Frau ist sie
nicht. Aber das liegt an ihrer Tiefe und Originalität. Sie ist phänomenal
gebildet, aber nicht wie die Intellektuellen, sondern auf eine volkstümliche
Weise. Deine und ihre Ansichten sind sich verblüffend ähnlich. Ihrer Erziehung
würde ich Katenka leichten Herzens anvertrauen.«
Wieder
ging er zum Bahnhof und kehrte ergebnislos zurück. Alles blieb in der Schwebe.
Seine und Laras Zukunft waren ungewiß. Es war ein kalter und düsterer Tag wie
vor dem ersten Schnee. Der Himmel über den Straßenkreuzungen, wo er sich weiter
ausdehnte als über den langgezogenen Straßenschluchten, sah winterlich aus.
Als
Shiwago nach Hause kam, war Serafima Tunzewa bei Lara zu Besuch. Das Gespräch
zwischen den beiden Frauen entwickelte sich zu einer Vorlesung, die die Besucherin
ihrer Gastgeberin hielt. Shiwago wollte sich nicht einmischen. Außerdem hatte
er Lust, ein wenig allein zu sein. Die beiden Frauen unterhielten sich im
Nebenzimmer. Die Tür war nur angelehnt. Vor der Tür hing bis zum Fußboden eine
Portiere, durch die er das Gespräch Wort für Wort verfolgen konnte.
»Ich werde
nähen, lassen Sie sich nicht dadurch stören, Serafima, ich bin trotzdem ganz
Ohr. Während meines Studiums habe ich Geschichte und Philosophie gehört. Ihre
Gedankenwelt liegt mir sehr. Außerdem ist es für mich eine Erleichterung, Ihnen
zuzuhören. Wir haben in den letzten Nächten vor lauter Sorgen zu wenig geschlafen.
Meine Pflicht als Mutter ist es, Katenka für den Fall, daß wir Unannehmlichkeiten
haben, in Sicherheit zu bringen. Ich muß nüchtern über sie nachdenken. Das ist
nicht gerade meine Stärke. Es macht mich traurig, das einsehen zu müssen. Ich
bin traurig vor Müdigkeit und Schlaflosigkeit. Es beruhigt mich, wenn Sie
reden. Außerdem muß jeden Moment Schnee fallen. Wenn es schneit, ist es ein
Genuß, kluge Gedanken zu hören. Wenn ich zum Fenster schaue, und es schneit,
bilde ich mir wirklich ein, daß jemand über den Hof zum Hause kommt. Sprechen
Sie, Serafima, ich höre Ihnen zu.«
»Wo waren
wir letztes Mal stehengeblieben?«
Shiwago
hörte nicht, was Lara antwortete. Er lauschte Serafimas Worten.
»Wir
können Wörter wie Kultur oder Epoche benutzen. Aber sie lassen sich verschieden
auffassen. Da ihr Sinn im Grunde unklar ist, wollen wir sie vermeiden und durch
andere Ausdrücke ersetzen.
Ich würde
sagen, der Mensch besteht aus zwei Teilen, aus Gott und aus Arbeit. Die
Entwicklung des menschlichen Geistes zerfällt in einzelne Arbeiten von
gewaltiger zeitlicher Dauer. Sie wurden von Generationen verrichtet und folgten
eine auf die andere. Eine solche Arbeit war Ägypten, eine solche Arbeit war
Griechenland, eine solche Arbeit war die biblische Gotteserkenntnis der Propheten.
Eine solche Arbeit, die letzte in der Zeit, die noch von keiner anderen abgelöst
wurde, ist eine von der gesamten zeitgenössischen Geistigkeit verrichtete
Arbeit - das Christentum.
Um Ihnen
das Neue, Niedagewesene, das es gebracht hat, in aller Frische vorzuführen,
überraschend, nicht so, wie Sie es kennen und gewohnt sind, sondern schlichter,
unmittelbarer, lassen Sie uns gemeinsam ein paar Auszüge aus liturgischen
Texten untersuchen, nur ganz wenige und in verkürzter Form.
Die
meisten kirchlichen Lobgesänge sind eine Verbindung nebeneinandergesetzter
Vorstellungen aus dem Alten und dem Neuen Testament. Leitbildern aus der alten
Welt - der brennende Dornbusch, der Auszug Israels aus Ägypten, die Jünglinge
im Feuerofen, Jonas im Walfischbauch und anderen - werden Leitbilder aus der
neuen Welt zur Seite gestellt, etwa die Vorstellung von der Empfängnis der
Gottesmutter oder von der Auferstehung Christi.
In dieser
häufigen, fast ständigen Verbindung werden das Alter des Alten, die Neuheit des
Neuen und ihre Unterschiede besonders deutlich.
In sehr
vielen Versen wird die unbefleckte Mutterschaft Marias mit dem Zug der Juden
durch das Rote Meer verglichen. Beispielsweise in dem Vers: >Das Rote
Weitere Kostenlose Bücher