Boris Pasternak
angefangene
Bilder mit dem Gesicht zur Wand stehen, war das Wohnzimmer Doktor Shiwagos ein
Festsaal des Geistes, eine Kammer der Verrücktheit, ein Lagerraum der
Entdeckungen.
Glücklicherweise
zogen sich die Verhandlungen mit der Krankenhausleitung in die Länge, und das
Datum des Arbeitsantritts rückte in ungewisse Zukunft. Shiwago nutzte den
Aufschub, um zu schreiben.
Er ordnete
das bereits Geschriebene; Teile davon hatte er selbst in Erinnerung, anderes
hatte Jewgraf ihm gebracht, zum Teil von Shiwagos Hand geschrieben, zum Teil
von fremden Händen abgetippt. Die chaotische Unordnung des Materials zwang den
Arzt, sich mehr zu verzetteln, als es eigentlich in seiner Natur lag. Darum gab
er diese Arbeit bald auf und ging von der Wiederherstellung unvollendeter
Texte zur Schaffung neuer über, beflügelt von seinen jüngsten Entwürfen.
Er schrieb
die Rohfassungen von Artikeln, ähnlich seinen flüchtigen Aufzeichnungen über
den ersten Aufenthalt in Warykino, Teile von Gedichten, die ihm einfielen,
Anfänge, Schlüsse und Mittelstücke wahllos durcheinander. Manchmal wurde er
mit den Gedanken, die auf ihn einstürmten, kaum fertig, schrieb
Anfangsbuchstaben von Wörtern und Abkürzungen und kam trotz schnellen
Schreibens kaum hinterher.
Er hatte
es eilig. Wenn seine Vorstellungskraft ermüdete und die Arbeit ins Stocken
geriet, trieb und peitschte er sie mit Zeichnungen weiter, die er an den Rand
malte. Sie zeigten Waldschneisen und städtische Kreuzungen, mitten drauf ein
Reklameschild »Moreau und Wetschinkin. Sämaschinen. Dreschmaschinen«.
Artikel
und Gedichte hatten nur ein Thema: die Stadt.
Später
fand sich unter seinen Papieren die Aufzeichnung:
»Als ich
im Jahre zweiundzwanzig nach Moskau zurückkehrte, fand ich die Stadt leer und
halb zerstört. So war sie aus den Prüfungen der ersten Revolutionsjahre
hervorgegangen, so ist sie geblieben bis auf den heutigen Tag. Die Bevölkerung
hat sich gelichtet, neue Häuser werden nicht gebaut, die alten nicht erneuert.
Aber auch
in diesem Zustand bleibt Moskau eine moderne Großstadt, eine einzigartige
Inspiratorin für eine wahrhaft moderne neue Kunst.
Die
ungeordnete Aufzählung scheinbar nicht zusammenpassender und gleichsam
willkürlich nebeneinandergestellter Dinge und Begriffe bei den Symbolisten,
bei Block, Verhaeren und Whitman ist keineswegs eine stilistische Schrulle. Es
ist die neue Ordnung der Eindrücke, im Leben entdeckt und nach der Natur
aufgezeichnet.
So wie sie
die Bilderfolgen durch ihre Verszeilen jagen, jagt die Stadt am Ausgang des
neunzehnten Jahrhunderts ihre Menschenmengen, Kutschen und Equipagen durch ihre
geschäftigen Straßen an uns vorbei; im darauffolgenden Jahrhundert sind es
dann die Waggons der städtischen Straßen- und Untergrundbahnen.
Pastorale
Schlichtheit ist unter diesen Umständen nirgends herzukriegen. Ihre
vorgetäuschte Kunstlosigkeit ist literarische Fälschung, unnatürliche
Affektiertheit, eine Erscheinung in der Buchsphäre, die nicht auf dem Land
ihren Ursprung hat, sondern in den Regalen der akademischen Bibliotheken. Die
lebendige, lebendig entstandene und dem heutigen Zeitgeist entsprechende
Sprache ist die Sprache des Urbanismus.
Ich wohne
an einer belebten städtischen Kreuzung. Das von der Sonne geblendete sommerliche
Moskau mit seinen Hitze verströmenden Asphalthöfen, den gleißenden Fenstern
der oberen Stockwerke und den blühenden Gewitterwolken und Boulevards wirbelt
um mich herum, verdreht mir den Kopf und will, daß ich zu seinem Ruhm anderen
den Kopf verdrehe. Dazu hat es mich erzogen und mir die Gabe der Kunst
verliehen.
Unentwegt,
Tag und Nacht, rauscht außerhalb der Wände die Straße und ist ebenso eng mit
der zeitgenössischen Seele verbunden wie die Ouvertüre mit dem dunklen und
geheimnisvollen, noch geschlossenen, doch schon von der Rampe her glutrot
angestrahlten Bühnenvorhang. Die unablässig und nie verstummend vor den Türen
und Fenstern sich bewegende und grollende Stadt ist das gewaltige Vorspiel zum
Leben jedes einzelnen von uns. In dieser Art möchte ich über die Stadt
schreiben.«
In dem
erhalten gebliebenen Gedichtheft Shiwagos sind solche Gedichte nicht zu finden.
Vielleicht gehört das Gedicht »Hamlet« in diese Kategorie?
Eines
Morgens Ende August stieg Doktor Shiwago bei der Haltestelle an der Ecke Gasetny-Gasse
in die Straßenbahn, die von der Universität die Bolschaja Nikitskaja hinauf
zur Kudrinskaja fuhr. Er war auf dem Weg zum
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