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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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Botkin-Krankenhaus, das damals
noch den Namen Soldatjonkowskaja trug. Es war überhaupt sein erster Arbeitstag
dort.
    Aber er
hatte kein Glück. Der Wagen, den er bestiegen hatte, war schadhaft und von Pech
verfolgt. Mal war ein Bauernfuhrwerk mit den Rädern in den Schienen steckengeblieben
und versperrte ihm den Fahrweg. Mal war unter dem Wagen oder auf dem Dach eine
Isolation kaputt, so daß es einen Kurzschluß gab und etwas knatternd
durchbrannte.
    Der
Wagenführer stieg immer wieder mit einem Schraubenschlüssel von der
Vorderplattform, ging um den Wagen herum und hockte sich hin, um zwischen den
Rädern und der hinteren Plattform etwas zu reparieren.
    Der
unglückselige Wagen hielt auf der ganzen Linie den Verkehr auf. Hinter ihm
sammelten sich immer mehr Straßenbahnen an und blockierten die Straße. Sie
standen schon bis zur Manege und darüber hinaus. Die Fahrgäste der hinteren
Bahnen stiegen um in die vordere, die die Stockung verursacht hatte, denn sie
hofften, auf diese Weise Zeit zu gewinnen. Der Morgen war heiß und die
Straßenbahn überfüllt, und es war eng und stickig. Über der Menge der durch die
Straße laufenden Fahrgäste kroch vom Nikitskije-Tor her eine schwarzlila Wolke
und stieg immer höher zum Himmel hinauf. Ein Gewitter rückte heran.
    Shiwago
saß links auf einem Einzelsitz und wurde gegen das Fenster gedrängt. Den
linken Bürgersteig der Bolschaja Nikitskaja mit dem Konservatorium hatte er
ständig im Blick. Mit der verminderten Aufmerksamkeit eines Menschen, der an
etwas ganz anderes denkt, beäugte er die Menschen dort, und keiner entging
seinem Blick.
    Eine
grauhaarige alte Dame, auf dem Kopf einen hellen Strohhut mit leinenen
Margeriten und Kornblumen, in einem altmodischen, straffsitzenden,
fliederblauen Kleid, schritt langsam, verpustend und sich mit einem flachen
Päckchen Luft zufächelnd, diese Seite entlang. Sie war in ein Korsett gezwängt,
litt unter der Hitze, war schweißüberströmt und wischte sich mit einem
Spitzentüchlein immer wieder die feuchten Lippen und Augenbrauen.
    Ihr Weg
führte sie an den Straßenbahngleisen entlang. Shiwago hatte sie schon ein
paarmal aus den Augen verloren, wenn die Straßenbahn, gerade repariert, wieder
anfuhr und sie überholte. Sie kehrte mehrere Male in sein Blickfeld zurück,
wenn eine neue Panne die Bahn zum Stehen brachte und die Dame sie einholte.
    Shiwago
erinnerte sich an die Schulaufgaben, bei denen Fahrzeit und Reihenfolge von zu
verschiedenen Stunden abgefahrenen und mit verschiedener Geschwindigkeit dahineilenden
Zügen berechnet werden mußten, und wollte sich die Methode ihrer Lösung ins
Gedächtnis rufen, aber daraus wurde nichts, und ohne zu einem Ende gekommen zu
sein, sprang er zu anderen, noch komplizierteren Überlegungen.
    Er dachte
an mehrere sich nebeneinander entwickelnde Existenzen, die sich mit
verschiedener Geschwindigkeit nebeneinanderher bewegten, und daran, wie ein
Schicksal das andere überholte und wer wen überlebte. Etwas wie ein
Relativitätsprinzip im menschlichen Leben zeigte sich ihm, doch da geriet er
endgültig durcheinander und gab seine Betrachtungen auf.
    Ein Blitz
zuckte, gefolgt von einem Donnerschlag. Die unglückselige Straßenbahn blieb zum
x-tenmal auf der abschüssigen Strecke von der Kudrinskaja zur
Soologitscheski-Gasse stehen. Die Dame in Lila erschien abermals im
Fensterrahmen, passierte die Straßenbahn, entfernte sich. Die ersten großen
Regentropfen klatschten auf den Bürgersteig, die Fahrbahn und die Dame. Ein
staubiger Windstoß fuhr durch die Bäume, zerwirbelte das Laub, zerrte am
Strohhut der Dame, fuhr ihr unter die Röcke und legte sich wieder.
    Juri
Shiwago fühlte, wie ihm schlecht wurde und die Kräfte schwanden. Seine Schwäche
überwindend, stand er auf und ruckelte an den Riemen des Fensterrahmens, um das
Fenster zu öffnen. Es wollte nicht nachgeben.
    Fahrgäste
riefen ihm zu, der Rahmen sei angeschraubt und lasse sich nicht öffnen, doch
er, gegen den Anfall kämpfend und von innerer Unruhe erfaßt, bezog die Rufe
nicht auf sich und nahm sie nicht zur Kenntnis. Er setzte seine Bemühungen
fort, zerrte den Rahmen nach oben, nach unten und zu sich heran, da spürte er
plötzlich einen nie da gewesenen, anhaltenden Schmerz in seinem Innern, und er
begriff, daß in ihm etwas gerissen war, daß er etwas Verhängnisvolles
angerichtet hatte und alles vorbei war. In diesem Moment setzte sich die
Straßenbahn in Bewegung, fuhr jedoch nur ein kurzes Stück die Presnja

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