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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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geliebten Namen und
Autoritäten. Das einzig Lebendige und Profilierte in euch ist die Tatsache,
daß ihr in derselben Zeit wie ich gelebt und mich gekannt habt! Was wäre
gewesen, wenn Shiwago den Freunden solche Geständnisse hätte machen können! Um
sie nicht zu betrüben, hörte er ihnen geduldig zu.
    Dudorow
war vor kurzem aus seiner ersten Verbannung zurückgekehrt und hatte all seine
Rechte zurückerhalten, die man ihm zeitweilig entzogen hatte. Auch durfte er
seine Vorlesungen und Seminare an der Universität wiederaufnehmen.
    Jetzt
erzählte er den Freunden von seinen Empfindungen und Seelenzuständen in der
Verbannung. Er sprach aufrichtig und ungeheuchelt. Seine Bemerkungen waren
nicht von Feigheit oder abseitigen Erwägungen diktiert.
    Er sagte,
daß die Argumente der Anklage, die Behandlung, die er im Gefängnis und nach
seiner Freilassung erfahren habe, und insbesondere die Gespräche mit dem
Untersuchungsführer unter vier Augen ihm das Gehirn gelüftet, ihn politisch
umerzogen und ihm für vieles die Augen geöffnet hätten, so daß er als Mensch
gereift sei.
    Dudorows
abgedroschene Redensarten gefielen Gordon. Er nickte zustimmend und pflichtete
ihm bei. Die stereotypen Sprüche und Gefühle rührten ihn besonders. Er hielt
solch nachgeplapperte triviale Empfindungen für allgemeine Menschlichkeit.
    Dudorows
tugendsame Reden entsprachen dem Zeitgeist. Aber ihre gesetzmäßige und
durchsichtige Scheinheiligkeit ließ Shiwago beinahe explodieren. Ein unfreier
Mensch neigt stets dazu, seine Unfreiheit zu idealisieren. So war es schon im
Mittelalter gewesen, darauf hatten die Jesuiten spekuliert. Shiwago konnte den
politischen Mystizismus der sowjetischen Intelligenz nicht ausstehen, der ihre
höchste Errungenschaft war oder, wie man damals gesagt haben würde, das
geistige Dach der Epoche. Shiwago verbarg seinen Freunden auch diesen Eindruck,
um Streit zu vermeiden.
    Aber ihn
interessierte etwas ganz anderes, nämlich das, was Dudorow von Wonifati Orlezow
erzählte, seinem Zellengefährten, einem Priester und Tichon-Anhänger. Dieser
hatte eine sechsjährige Tochter Christina. Die Verhaftung und das weitere
Schicksal ihres geliebten Vaters war ein Schlag für sie gewesen. Wörter wie
»Kultdiener«, »Rechtloser« und ähnliche empfand sie als Schandmale. Diese
Schandmale vom guten Namen ihres Vaters wegzuwaschen mochte sie irgendwann in
ihrem heißen kindlichen Herzen gelobt haben. Das so früh und so weit gesteckte
Ziel, das als unumstößlicher Entschluß in ihr brannte, machte sie schon früh zu
einer kindlich begeisterten Anhängerin von allem, was ihr am Kommunismus
unwiderlegbar erschien.
    »Ich
gehe«, sagte Shiwago. »Sei mir nicht böse, Mischa. Es ist so stickig hier
drinnen, und draußen diese Hitze. Mir wird die Luft knapp.«
    »Du
siehst, die Lüftungsklappe am Fußboden ist offen. Entschuldige, wir haben alles
vollgequalmt. Wir vergessen immer wieder, daß in deiner Gegenwart nicht geraucht
werden darf. Ich kann ja nichts dafür, daß das hier so blöd gebaut ist. Besorg
mir ein anderes Zimmer.«
    »Darum
gehe ich, Gordon. Wir haben genug geredet. Ich danke euch für eure Sorge um
mich, liebe Freunde. Es ist ja nicht, weil ich launisch wäre. Ich bin krank,
Sklerose der Herzkranzgefäße, und der Herzmuskel ist angegriffen. Eines schönen
Tages kann es versagen. Dabei bin ich noch keine vierzig. Und ich bin kein
Säufer und kein Liederjan.«
    »Du singst
dein Sterbelied ein bißchen früh. Dummheiten. Du lebst noch eine Weile.«
    »Heutzutage
treten immer öfter mikroskopisch winzige Blutgerinsel im Herzen auf. Nicht alle
sind tödlich. Es kommt vor, daß die Menschen sie überleben. Es ist eine
Krankheit der jüngsten Zeit. Ich glaube, ihre Ursachen sind sittlicher Natur.
Den meisten von uns wird ständig eine zum System erhobene Heuchelei abverlangt.
Ohne Folgen für die Gesundheit kann man sich nicht tagtäglich anders geben, als
man fühlt, sich für etwas einsetzen, was man nicht liebt, sich über etwas
freuen, was einem Unglück bringt. Das Nervensystem ist kein leeres Wort, keine
Erfindung. Es ist ein aus Fasern bestehender physikalischer Körper. Unsere
Seele nimmt einen Platz im Raum ein und sitzt in uns, so wie die Zähne im Mund
sitzen. Man kann ihr nicht endlos ungestraft Gewalt antun. Es ist mir
schwergefallen, deinen Bericht über die Verbannung zu hören, Nika, darüber, wie
du dort gereift bist und wie sie dich umerzogen hat. Das ist so, als ob ein
Pferd erzählt, wie es

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