Boris Pasternak
entlang
und blieb wieder stehen.
Mit einer
übermenschlichen Willensanstrengung, taumelnd und nur mühsam sich durch die
Menschen im Gang zwängend, gewann Shiwago die hintere Plattform. Man wollte ihn
nicht durchlassen, fauchte ihn an. Ihm war, als ob der Luftstrom ihn erfrischte
und vielleicht noch nicht alles vorbei sei, und fühlte sich besser.
Während er
sich durch die Menschen auf der hinteren Plattform drängte, gab es wieder
Schimpfworte, Püffe und wütende Reaktionen. Er achtete nicht darauf, kämpfte
sich zur Tür, stieg über die Stufen der haltenden Bahn auf den Fahrdamm, machte
einen Schritt, noch einen, einen dritten, brach zusammen und blieb auf dem
Pflaster liegen.
Lärm,
Stimmengewirr, Streit, Ratschläge. Ein paar Leute stiegen von der Plattform und
umstanden den Liegenden. Bald stellte man fest, daß er nicht mehr atmete und
sein Herz nicht mehr schlug. Zu dem Häuflein um den Leichnam kamen Passanten
von den Bürgersteigen, teils beruhigt, teils enttäuscht, daß der Mann nicht
überfahren und die Straßenbahn an seinem Tod unschuldig war. Die Menge wurde
immer größer. Auch die Dame in Lila trat herzu, blieb stehen, besah den Toten,
horchte auf die Gespräche und ging weiter. Sie war Ausländerin, aber sie hatte
verstanden, daß einige den Toten in die Straßenbahn bringen und ins
Krankenhaus fahren, andere aber die Miliz holen wollten. Zu welchem Entschluß
man kam, wartete sie nicht mehr ab.
Die Dame
in Lila war die Schweizer Staatsbürgerin Mademoiselle Fleury aus Meljusejew,
schon hochbetagt.
Seit zwölf
Jahren bemühte sie sich um die Genehmigung, in ihre Heimat auszureisen. Erst
kürzlich waren ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt worden. Sie war nach Moskau
gekommen, um ihr Ausreisevisum abzuholen. Zu diesem Zweck war sie jetzt
unterwegs zu ihrer Botschaft, und sie benutzte das eingewickelte und mit einem
Band umschnürte Päckchen ihrer Papiere, um sich Luft zuzufächeln. Sie ging
weiter, überholte zum zehntenmal die Straßenbahn und, ohne es zu wissen, auch
Shiwago, den sie überlebt hatte.
Vom
Korridor aus konnte man durch die Tür in das Zimmer sehen, in dem schräg ein
Tisch stand. Darauf befand sich, das verjüngte Fußende der Tür zugewandt, der
grob zusammengehauene Sarg, der an ein Boot erinnerte. An diesem Tisch hatte
Shiwago früher geschrieben. Es gab keinen anderen in diesem Zimmer. Die Manuskripte
waren in eine Kiste geräumt worden, damit der Sarg darauf stehen konnte. Die
Kopfkissen waren hoch aufgeschüttelt, und der Leichnam lag im Sarg wie auf
einer Anhöhe.
Er war von
einer Blumenfülle umgeben, ganze Büsche des für die Jahreszeit seltenen weißen
Flieders, Alpenveilchen, Zinerarien in Töpfen und Körben. Die Blumen
verdunkelten das Licht, das nur sparsam durch die Fenster auf das wächserne
Gesicht und die Hände des Toten sickerte, auf das Holz und die Auskleidung des
Sargs. Auf dem Tisch lag ein schönes Schattenmuster, das gleichsam eben erst
aufgehört hatte, sich zu bewegen.
Verstorbene
im Krematorium einzuäschern war dazumal weithin üblich. In der Hoffnung auf
eine Rente für die Kinder, aus Sorge um ihr schulisches Fortkommen und um
Marina auf ihrer Arbeitsstelle nicht zu schaden, hatte man auf eine kirchliche
Trauerfeier verzichtet und beschlossen, sich mit einer weltlichen Einäscherung
zu begnügen. Die Anträge bei den zuständigen Behörden waren eingereicht. Man
wartete auf die Vertreter.
Das Zimmer
war leer wie eine Wohnung zwischen dem Auszug der alten und dem Einzug der
neuen Mieter. In der Stille hörte man nur die taktvollen Schritte auf Zehenspitzen
und das unvorsichtige Füßeschurren der Trauergäste. Es waren nicht viele, doch
immerhin weit mehr, als man hatte erwarten können. Die Nachricht vom Tode des
beinahe namenlosen Menschen hatte sich mit ungeahnter Schnelligkeit in ihrem
Kreis verbreitet. So kam doch eine Anzahl von Menschen zusammen, die den
Verstorbenen zu verschiedenen Zeiten seines Lebens gekannt und die er zu
verschiedenen Zeiten aus den Augen verloren und vergessen hatte. Seine
wissenschaftlichen Ideen und seine Dichtungen hatten eine noch größere Zahl
unbekannter Freunde gefunden, die den Mann, zu dem es sie zog, nie gesehen
hatten und jetzt einen ersten und letzten Blick auf ihn warfen.
In diesen
Stunden, in denen das allgemeine Schweigen, von keiner Zeremonie ausgefüllt,
wie eine fast spürbare Entbehrung auf den Menschen lastete, waren nur die Blumen
ein Ersatz für den fehlenden Gesang und die
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