Boris Pasternak
So
war es auch. Die beiden blieben allein, nahmen auf zwei Hockern an der Wand
Platz und sprachen zur Sache.
»Was haben
Sie erfahren, Jewgraf Andrejewitsch?«
»Die
Einäscherung ist heute abend. In einer halben Stunde kommen Vertreter der
Medizinarbeitergewerkschaft und bringen den Toten in den Gewerkschaftsklub.
Die weltliche Trauerfeier ist auf vier Uhr festgesetzt. Kein einziges der
Papiere war in Ordnung. Das Arbeitsbuch war abgelaufen, das Mitgliedsbuch der
Gewerkschaft alt und nicht umgetauscht, die Beiträge jahrelang nicht bezahlt.
All das mußte ich regeln. Daher die Verzögerung und Verspätung. Vor dem
Hinaustragen aus dem Hause, das ist übrigens bald, wir müssen uns bereithalten,
lasse ich Sie hier allein, wie Sie gebeten haben. Entschuldigen Sie mich. Das
Telefon hat geklingelt. Einen Moment.«
Jewgraf
Shiwago ging in den Korridor, wo sich Mitarbeiter des Arztes, Schulfreunde,
Krankenhausangestellte und Verlagsmitarbeiter aufhielten. Marina saß mit den
Kindern auf der Bank, hatte sie unter ihren Mantel genommen und die Arme um
sie gelegt (der Tag war kalt, und es zog von der Haustür her) und wartete, daß
sich die Tür wieder öffnete, so wie eine Frau, die ihren inhaftierten Mann
besucht, darauf wartet, vom Wachposten in den Empfangsraum des Gefängnisses
gelassen zu werden. Die Menschen im Korridor drängten sich. Ein Teil der
Trauergäste hatte keinen Platz darin gefunden. Die Wohnungstür war offen. Eine
Menge Leute standen im Hausflur und auf dem Treppenabsatz und rauchten. Auch
auf der Treppe zur Haustür standen Leute und unterhielten sich um so lauter und
freier, je näher es zur Straße war. Jewgraf Shiwago mußte wegen des Stimmengewirrs
sein Gehör anspannen; mit gedämpfter Stimme, wie es der Anstand erforderte,
sprach er mit vorgelegter Hand in den Hörer und gab Antworten, die mit der
Bestattung und den Todesumständen Doktor Shiwagos zu tun haben mochten. Dann
kehrte er ins Zimmer zurück. Die Unterhaltung ging weiter.
»Bitte
gehen Sie nicht weg nach der Einäscherung, Larissa Fjodorowna. Ich habe eine
große Bitte an Sie. Ich weiß nicht, wo Sie untergekommen sind. Lassen Sie mich
nicht im ungewissen, wo ich Sie finden kann. Ich möchte schon morgen oder
übermorgen die Papiere meines Bruders sichten. Dazu brauche ich Ihre Hilfe.
Sie wissen viel, wahrscheinlich mehr als alle anderen. Sie erwähnten beiläufig,
daß Sie erst vorgestern aus Irkutsk gekommen sind, nicht lange in Moskau bleiben
wollen und rein zufällig diese Wohnung aufgesucht haben, ohne zu wissen, daß
mein Bruder die letzten Monate hier gewohnt hat und was hier geschehen ist. Was
Sie sagten, habe ich teilweise nicht verstanden, und ich bitte auch nicht um
Erklärungen, aber bitte verschwinden Sie nicht, ohne mir Ihre Anschrift zu
geben. Das Beste wäre, wir würden die wenigen Tage, die das Sichten der
Manuskripte dauern wird, unter einem Dach verbringen oder in geringer Entfernung
voneinander, vielleicht in zwei Zimmern des Hauses. Ich könnte das arrangieren.
Ich kenne den Hausverwalter.«
»Sie
sagen, Sie hätten mich nicht verstanden. Was war denn unverständlich? Ich bin
nach Moskau gekommen, habe meine Sachen in der Gepäckaufbewahrung gelassen, bin
durch das alte Moskau gegangen, habe es zur Hälfte nicht wiedererkannt, wußte
nichts mehr. Ich bin lange umhergewandert, den Kusnezki Most hinunter, die
Kusnezki-Gasse hinauf, und plötzlich kam mir etwas erschreckend bekannt vor -
die Kamergerski-Gasse. Hier hatte mein verstorbener Mann Antipow, der
erschossen wurde, als Student ein Zimmer gemietet, genau dieses Zimmer, in dem
wir beide jetzt sitzen. Da wollte ich einfach mal nachschauen, ob ich Glück
habe und die alten Wohnungsmieter noch leben. Daß sie längst vergessen sind und
alles anders geworden ist, habe ich dann erfahren, am zweiten Tag und heute,
ganz allmählich, durch Befragungen, aber Sie waren ja immer dabei, warum
erzähle ich Ihnen das? Ich war wie vom Blitz getroffen, als die Tür weit offen,
das Zimmer voller Menschen war, ein Sarg darin stand und im Sarg ein Toter lag.
Was für ein Toter? Ich kam herein, trat näher und dachte, ich werde wahnsinnig,
ich träume, aber Sie waren ja Zeuge, stimmt es nicht, warum erzähle ich Ihnen
das alles?«
»Einen
Moment, Larissa Fjodorowna, ich muß Sie unterbrechen. Ich sagte Ihnen schon,
daß ich und mein Bruder keine Ahnung hatten, wieviel wundersame Erinnerungen
an diesem Zimmer hängen. Zum Beispiel, daß Antipow mal hier gewohnt hat. Aber
noch
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