Boris Pasternak
mehr wundere ich mich über einen Ausdruck von Ihnen. Ich sag's Ihnen
gleich, entschuldigen Sie. Es geht um Antipow, um die militärische und
revolutionäre Tätigkeit Strelnikows, von der ich eine Zeitlang, zu Beginn des
Bürgerkriegs, oft und viel gehört habe, beinahe täglich; ein- oder zweimal habe
ich ihn persönlich gesehen, ohne zu ahnen, in welch familiäre Nähe wir einmal
geraten würden. Verzeihen Sie, vielleicht habe ich mich auch verhört, aber mir
ist so, als ob Sie sagten, es war wohl ein Versprecher, daß Antipow erschossen
wurde. Wissen Sie denn nicht, daß er sich selbst erschossen hat?«
»Eine
solche Version gibt es, aber ich glaube nicht daran. Pawel Antipow war nie und
nimmer ein Selbstmörder.«
»Und doch
ist es absolut sicher. Antipow hat sich in dem Häuschen erschossen, das Sie, wie
mein Bruder mir erzählte, verlassen haben, um nach Jurjatin zu fahren und dann
nach Wladiwostok zu reisen. Es geschah kurz nach Ihrer Abreise mit Ihrer
Tochter. Mein Bruder hat den Toten gefunden und begraben. Sind diese
Informationen nie zu Ihnen gelangt?«
»Nein. Ich
hatte andere. Er hat sich also wirklich erschossen? Viele haben es gesagt, und
ich habe es nicht geglaubt. In unserm Häuschen? Unmöglich! Das ist ja eine
unerhört wichtige Nachricht! Entschuldigen Sie, wissen Sie auch, ob er und
Shiwago sich begegnet sind? Haben Sie darüber gesprochen?«
»Wie mir
der verstorbene Juri sagte, hatten sie ein langes Gespräch miteinander.«
»Wirklich
wahr? Gott sei Dank. Das ist gut.« Sie bekreuzigte sich langsam. »Was für eine
erstaunliche, vom Himmel herabgesandte Verkettung von Umständen! Darf ich
später noch einmal darauf zurückkommen und Sie nach Einzelheiten fragen? Hier
ist mir jede Kleinigkeit kostbar. Jetzt bin ich dazu nicht in der Verfassung.
Stimmt es nicht? Ich bin zu erregt. Ich will ein Weilchen schweigen,
verschnaufen, meine Gedanken sammeln.
Stimmt es
nicht?«
»Aber
gewiß, gewiß. Bitte.«
»Stimmt es
nicht?«
»Natürlich.«
»Ach, fast
hätte ich's vergessen. Sie haben mich gebeten, nach der Einäscherung nicht
wegzugehen. Gut, ich verspreche es Ihnen. Ich werde nicht verschwinden. Ich
kehre mit Ihnen in diese Wohnung zurück und bleibe, wo Sie es bestimmen und
solange es nötig ist. Wir können Juras Manuskripte durchsehen, ich helfe Ihnen.
Vielleicht kann ich Ihnen wirklich nützen. Das wird mir ein Trost sein! Ich
fühle mit meinem Herzblut, mit jeder Fiber alle Schwingungen seiner
Handschrift. Und dann habe ich auch noch ein Anliegen an Sie, Sie werden mir
helfen, stimmt es nicht? Sie sind doch wohl Jurist oder jedenfalls ein guter
Kenner der bestehenden Ordnung, der früheren wie der heutigen. Es ist ja so
wichtig, zu wissen, an welche Behörde man sich wegen Bescheinigungen wenden
muß. Darin kennt sich nicht jeder aus, stimmt es nicht? Ich brauche Ihren Rat
in einer Angelegenheit, die mich bedrückt und ängstigt. Es geht um ein Kind.
Aber davon später, nach unserer Rückkehr vom Krematorium. Mein Leben lang mußte
ich jemanden suchen, stimmt es nicht? Wenn es, angenommen, notwendig wäre, die
Spuren eines Kindes zu suchen, das zur Erziehung in fremde Hände gegeben wurde,
möchte ich wissen, ob es ein allgemeines, die ganze Union erfassendes Archiv
der bestehenden Kinderheime gibt und ob eine gesamtstaatliche Registratur
obdachloser Kinder stattfindet. Aber bitte antworten Sie mir nicht gleich.
Später, später. Oh, wie schrecklich, wie schrecklich! Das Leben ist wirklich
etwas Schreckliches, stimmt es nicht? Ich weiß nicht, wie es weitergeht, wann
meine Tochter kommt, aber vorerst kann ich in dieser Wohnung bleiben. Katenka
zeigt hervorragende Fähigkeiten, teils schauspielerisch, teils musikalisch, sie
kann jeden Menschen wunderbar imitieren und spielt ganze Szenen, die sie sich
selber ausgedacht hat, außerdem singt sie nach Gehör Opernpartien, ein
erstaunliches Kind, stimmt es nicht? Ich möchte meine Tochter in den Vorbereitungskurs
des Theaterinstituts oder des Konservatoriums geben, je nachdem, wo man sie
aufnimmt. Wohnen soll sie in einem Internat, zu diesem Zweck bin ich hergekommen,
ohne sie zunächst, um alles zu regeln, dann will ich wieder zurück. Aber alles
läßt sich nicht erzählen, stimmt es nicht? Später mehr darüber. Jetzt will ich
warten, bis meine Erregung sich legt, ich will ein Weilchen schweigen, meine
Gedanken sammeln, meine Ängste zu vertreiben suchen. Außerdem haben wir Juras
Angehörige im Korridor viel zu lange warten lassen.
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