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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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Schon zweimal hatte ich
den Eindruck, daß jemand klopft. Dort ist irgendwie Lärm und Bewegung.
Sicherlich sind die Vertreter der Bestattungsbehörde eingetroffen. Während ich
hier sitze und nachdenke, können Sie schon öffnen und die Leute hereinlassen.
Es ist an der Zeit, stimmt es nicht? Warten Sie, einen Moment. Wir müssen die
kleine Bank zu dem Sarg stellen, sonst reichen die Gäste nicht an Jura heran.
Ich hab's auf Zehenspitzen versucht, es war sehr schwierig. Marina Markelowna
und die Kinder müssen sich doch verabschieden. Außerdem bedarf es der
Zeremonie. >So küßt mich denn mit einem letzten Kuß.< Oh, ich kann nicht
mehr, ich kann nicht mehr. Es tut so weh. Stimmt es nicht?«
    »Gleich
lasse ich die Leute herein. Aber vorher noch etwas. Sie haben so viel
Geheimnisvolles gesagt und so viele Fragen aufgeworfen, die Sie zu bedrücken
scheinen, daß ich Mühe haben werde zu antworten. Ich möchte jedoch, daß Sie
eines wissen. Gern, von ganzem Herzen biete ich Ihnen meine Hilfe an in allem,
was Ihnen Sorge macht. Denken Sie daran. Man darf niemals, unter gar keinen
Umständen verzweifeln. Hoffen und Handeln, das ist unsere Pflicht, wenn wir im
Unglück sind. Untätige Verzweiflung, das ist Vergessen und Pflichtverletzung.
Aber jetzt lasse ich die Trauergäste wirklich herein. Mit der Bank haben Sie
recht. Ich hole sie und stelle sie hin.«
    Aber Lara
hörte nicht mehr zu. Sie hörte nicht, wie Jewgraf Shiwago die Tür öffnete und
die Trauergäste aus dem Korridor hereinströmten, sie hörte nicht, wie er mit
den Bestattern und den engsten Leidtragenden sprach, sie hörte nicht die
schlurfenden Schritte, das Schluchzen Marinas, das Hüsteln der Männer, das
Weinen der Frauen, die Aufschreie.
    Die
eintönigen Geräusche um sie herum lullten sie ein, und ihr wurde schlecht. Sie
nahm sich mit aller Kraft zusammen, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Ihr Herz
drohte zu zerspringen, und der Kopf schmerzte. Sie senkte ihn und versank in
Gedanken, Überlegungen, Erinnerungen. Darin ging sie dermaßen unter, als wäre sie
für ein paar Stunden in ein späteres Alter versetzt, von dem noch nicht
feststand, ob sie es erreichen würde, das sie aber zehn Jahre älter, zu einer
alten Frau machte. Sie war so in ihren Grübeleien versunken, als wäre sie in
die tiefste Tiefe, auf den untersten Grund ihres Unglücks gestürzt. Sie dachte:
Jetzt ist keiner mehr da. Der eine ist gestorben. Der andere hat sich selbst
umgebracht. Nur der eine ist am Leben geblieben, den man umbringen müßte, auf
den ich geschossen, den ich jedoch verfehlt habe, dieser überflüssige,
nichtswürdige Mensch, der mein Leben in eine Kette von Verbrechen verwandelt
hat. Dieses Ungeheuer an Mittelmäßigkeit treibt sich in den mythischen Winkeln
Asiens herum, die nur für Briefmarkensammler ein Begriff sind, doch von meinen
Angehörigen und den Menschen, die ich brauchte, lebt keiner mehr.
    Ach ja, zu
Weihnachten ist das gewesen, vor dem geplanten Schuß auf das Gespenst der
Abgeschmacktheit, da hatte ich im Dunkeln in diesem Zimmer mit Pawel eine
Unterhaltung, und Juri, von dem ich jetzt hier Abschied nehme, hat es in
meinem Leben noch gar nicht gegeben.
    Sie
bemühte ihre Erinnerung, um das weihnachtliche Gespräch mit Pawluscha zu
rekonstruieren, aber ihr fiel nur noch die Kerze ein, die auf dem Fensterbrett
brannte und ein rundes Loch in die Eiskruste der Scheibe geschmolzen hatte.
    Konnte sie
ahnen, daß der Verstorbene auf dem Tisch bei seiner Fahrt durch die Straße
dieses Auge bemerkt und beachtet hatte? Daß mit dieser Flamme, die er von
draußen sah - »Die Kerze brannte auf dem Tisch, die Kerze brannte« —, seine
Vorbestimmung in sein Leben trat?
    Ihre
Gedanken verwirrten sich. Sie dachte: Es ist doch schade, daß er nicht
kirchlich beigesetzt wird! Das Bestattungsritual ist so majestätisch und
feierlich! Die meisten Verstorbenen verdienen es gar nicht. Jura wäre ein
dankbarer Anlaß gewesen! Er hätte es verdient und gerechtfertigt, dieses
Schluchzen am Grabe, »welches das Klagelied zum Halleluja werden läßt«.
    Sie spürte
eine Welle von Stolz und Erleichterung, wie immer bei dem Gedanken an Juri, wie
immer in den kurzen Zeiten, die ihr Leben an seiner Seite verlief. Der Hauch
von Freiheit und Sorglosigkeit, der stets von ihm ausging, berührte sie auch
jetzt. Ungeduldig stand sie auf von dem Hocker, auf dem sie gesessen hatte. Etwas
nicht ganz Begreifbares ging mit ihr vor. Sie wollte mit seiner Hilfe, wenn
auch nur für kurze

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