Boris Pasternak
Zeit, hinaus ins Freie, in die frische Luft, hinaus aus dem
sie umfangenden Leid, und wie schon so manches Mal das Glück der Befreiung
empfinden. Als großes Glück erträumte sie den Abschied von ihm, das Recht und
die Gelegenheit, ihn allein frei und ungehindert zu beweinen. Mit der Hast der
Leidenschaft blickte sie über die Menge hin, und ihr Blick war gebrochen vom
Schmerz, war blind und voller Tränen, als hätte ihr ein Augenarzt brennende
Tropfen hineingeträufelt, und die Menschen kamen in Bewegung, schneuzten sich,
wichen zur Seite, gingen aus dem Zimmer, ließen sie endlich allein hinter der
angelehnten Tür, da bekreuzigte sie sich rasch im Gehen, trat zu dem Tisch mit
dem Sarg, stieg auf das von Jewgraf hingestellte Bänkchen, schlug langsam drei
große Kreuze über dem Leichnam und küßte die kalte Stirn und die Hände. Sie
verdrängte die Empfindung, die erkaltete Stirn wäre kleiner geworden, so groß
wie eine kleine Faust, und es gelang ihr, dies nicht wahrzunehmen. Sie
erstarrte, und ein paar Augenblicke lang sprach sie nicht, dachte sie nicht und
weinte sie nicht, sondern bedeckte die Mitte des Sargs, die Blumen und den
Leichnam mit ihrem Körper, ihrem Kopf, ihrer Brust, ihrer Seele und ihren
Händen, die so groß waren wie ihre Seele.
Das so
lange zurückgehaltene Schluchzen erschütterte ihren ganzen Körper. Solange sie
es vermochte, hatte sie sich beherrscht, doch plötzlich ging das über ihre
Kräfte, die Tränen brachen hervor und netzten Wangen, Kleid, Hände und den
Sarg, an den sie sich preßte.
Sie sagte
nichts, dachte nichts. Gedanken, Gemeinsamkeiten, Erkenntnisse, Richtigkeiten
strömten reihenweise dahin, eilten durch sie hindurch wie Wolken über den Himmel,
wie zu Zeiten ihrer früheren nächtlichen Gespräche. Das war es, was ihr Glück
und Befreiung brachte. Wissen, das nichts mit dem Kopf zu tun hatte, heißes
Wissen, das sie einander einflößten, instinktiv, unmittelbar.
Solches
Wissen erfüllte sie auch jetzt, dunkles, unbewußtes Wissen vom Tod, Bereitsein
für den Tod, fehlende Angst vor dem Tod. Es war, als hätte sie schon zwanzigmal
auf der Welt gelebt, hätte Juri Shiwago unzählige Male verloren und so viel
Herzenserfahrungen darüber gesammelt, daß alles, was sie an diesem Sarg fühlte
und tat, zutreffend und angebracht war.
Oh, was
war das für eine Liebe, frei, einzigartig, mit nichts zu vergleichen! Sie
hatten so gedacht, wie andere vor sich hin singen.
Sie hatten
einander nicht unter Zwang, nicht »von Leidenschaft versengt« geliebt, wie das
oft fälschlich dargestellt wird. Sie hatten einander geliebt, weil alles
ringsum es so wollte: die Erde unter ihnen, der Himmel über ihnen, die Wolken,
die Bäume. Ihre Liebe gefiel ihrer Umgebung vielleicht noch mehr als ihnen
selbst. Den Unbekannten auf der Straße, den weiten Fernen, die sich beim
Spazierengehen vor ihnen dehnten, den Zimmern, in denen sie wohnten und sich
trafen.
Ach, das
war es, das Wichtigste, was sie einander nahebrachte und vereinte. Niemals,
niemals, nicht einmal in den Momenten des höchsten Glücks, verließ sie dieses
Erhabene, Ergreifende: die Seligkeit, gemeinsam die Welt zu formen, das Gefühl,
Teil des Gesamtbildes zu sein, die Empfindung, zu dem schönen Schauspiel, zum
Universum dazuzugehören.
Diese
Gemeinschaftlichkeit war ihre Luft zum Atmen. Darum waren die Erhebung des
Menschen über die übrige Natur, seine modische Verhätschelung und seine
Anbetung nichts für sie. Die Prinzipien der verlogenen Vergesellschaftung, in
Politik verwandelt, dünkten sie jämmerlich, hausbacken und blieben ihnen
unbegreiflich.
Und nun
verabschiedete sie sich von ihm mit den schlichten Worten einer munteren,
zwanglosen Unterhaltung, die die Realität sprengte und ebensowenig Sinn hatte
wie die Chöre und Monologe der Tragödien, die Sprache der Gedichte, die Musik
und sonstige bedingte Kunstformen, deren einzige Rechtfertigung die Bedingtheit
der Erregung ist. Die Bedingtheit des Anlasses, der die Spannung ihres
leichten, unvoreingenommenen Gesprächs rechtfertigte, waren ihre Tränen, in
denen ihre alltäglichen, unfeierlichen Wörter ertranken, badeten und schwammen.
Es schien,
als flössen ihre tränennassen Wörter von selbst zusammen zu einem zärtlichen,
hastigen Gestammel, so wie der Wind das von einem warmen Regen verwirrte
seidige, nasse Laub bewegt.
»Nun sind
wir wieder beisammen, Jurotschka. Gott hat uns eine neue Begegnung geschenkt.
Wie schrecklich, denk doch nur! Oh,
Weitere Kostenlose Bücher