Boris Pasternak
so tat Jura denn auch, als ob sie sich nicht kannten. Und sie...
Also hat sie geschossen? Auf den Staatsanwalt? Bestimmt eine Politische. Die
Ärmste. Das wird böse Folgen für sie haben. Wie stolz und schön sie ist! Und
die da zerren sie, diese Teufel, verdrehen ihr die Arme wie einer erwischten
Diebin.
Aber dann begriff er, daß er
das falsch sah. Lara konnte sich kaum auf den Beinen halten. Man hielt sie bei
den Armen, damit sie nicht hinfiel, und schleppte sie mühsam zum nächsten
Sessel, in dem sie dann auch zusammenbrach.
Jura eilte zu ihr, um sie zur
Besinnung zu bringen, wollte aber zunächst dem vermeintlichen Opfer des
Anschlags sein Interesse bekunden. Er ging zu Kornakow und sagte: »Es wurde um
ärztliche Hilfe gebeten. Ich kann sie leisten. Zeigen Sie mir Ihre Hand. Nun,
Gott war Ihnen gnädig. Das ist eine Lappalie und braucht nicht mal verbunden zu
werden. Im übrigen könnte ein wenig Jod nicht schaden. Da ist Frau Swentizki,
wir werden sie darum bitten.«
Frau Swentizki und Tonja, die
rasch auf Jura zukamen, waren sehr blaß. Sie sagten, er solle alles stehn und
liegen lassen und sich schleunigst anziehen, der Schlitten sei da, um sie
abzuholen, zu Hause sei etwas geschehen. Jura erschrak, dachte an das
Schlimmste, vergaß alles auf der Welt und lief nach seinem Mantel.
Sie trafen Anna Iwanowna nicht
mehr lebend an, als sie Hals über Kopf ins Haus stürzten. Der Tod war zehn
Minuten vor ihrer Ankunft eingetreten. Die Todesursache war ein langer
Erstickungsanfall infolge eines akuten, nicht rechtzeitig erkannten
Lungenödems.
In den ersten Stunden schrie
Tonja fürchterlich, wand sich in Krämpfen und erkannte niemanden. Am nächsten
Tag wurde sie still und hörte geduldig auf das, was der Vater und Jura ihr
sagten, aber sie konnte nur durch Nicken antworten, denn kaum öffnete sie den
Mund, packte das Leid sie mit alter Kraft, und die Schreie brachen wie von
selbst aus ihr hervor wie aus einer Besessenen.
Stundenlang kniete sie in den
Pausen zwischen den Gebeten bei der Toten, die schönen langen Arme um eine Ecke
des Sargs und den Rand des Gestells gelegt, auf dem er stand, und um die
Kränze, die ihn bedeckten. Sie nahm keinen Menschen wahr. Kaum aber trafen ihre
Blicke auf die der Angehörigen, stand sie eilig auf, huschte, ihr Schluchzen
unterdrückend, aus dem Saal, lief die Treppe hinauf in ihr Zimmer, warf sich
aufs Bett und wühlte die Ausbrüche der in ihr rasenden Verzweiflung in die
Kissen.
Von dem Kummer, dem langen
Stehen und der Unausgeschlafenheit, von den Totengesängen, dem blendenden
Kerzenlicht Tag und Nacht und von der Erkältung, die sich Jura zugezogen hatte,
war in seiner Seele ein süßes Durcheinander, selig und fieberhaft, gramvoll und
begeistert.
Zehn Jahre zuvor, als seine
Mutter beigesetzt wurde, war er noch ganz klein gewesen. Bis heute erinnerte er
sich, wie untröstlich er geweint hatte vor Leid und Grauen. Damals war er nicht
die Hauptsache gewesen. Damals dürfte er sich kaum gedacht haben, daß es ihn,
einen gewissen Jura, gab und daß er für sich genommen von Wert oder Interesse
war. Damals war die Hauptsache das gewesen, was außerhalb von ihm und um ihn
existierte. Die Außenwelt umschloß ihn von allen Seiten, spürbar,
undurchdringlich und unbezweifelbar wie ein Wald, darum war er ja über den Tod
der Mutter so erschüttert gewesen, weil er sich mit ihr in diesem Wald verirrt
hatte und plötzlich darin allein zurückgeblieben war, ohne sie. Dieser Wald
bestand aus allen Dingen dieser Welt — den Wolken, den Ladenschildern der
Stadt, den Kugeln auf den Wachtürmen der Feuerwehr, den Klosterdienern, die vor
der Kutsche mit dem Bildnis der Gottesmutter herritten und statt der Mützen
Ohrenschützer auf den angesichts des Heiligtums entblößten Köpfen trugen. Zu
diesem Wald gehörten auch die Schaufenster in den Passagen und der unerreichbar
hohe nächtliche Sternenhimmel, der liebe Gott und die Heiligen.
Dieser unfaßbar hohe Himmel
neigte sich tief herunter zu ihm ins Kinderzimmer in den Schoß der Kinderfrau,
wenn sie eine fromme Geschichte erzählte, und er wurde nah und greifbar wie der
Wipfel des Nußbaums, dessen Zweige man in den Schluchten niederbog, um die
Nüsse zu ernten. Er tauchte im Kinderzimmer gleichsam in die vergoldete
Schüssel und verwandelte sich, wenn er in Gold und Feuer gebadet hatte, in den
Frühgottesdienst oder die Vormittagsmesse im Kirchlein der Gasse, in das die
Kinderfrau ihn führte. Dort wurden die
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