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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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Sie fuhren, das Kinn im Kragen, die frierenden
Ohren reibend, und dachten über Verschiedenes nach. In einem Punkt aber trafen
sich ihre Gedanken.
    Die jüngste Szene bei Anna
Iwanowna hatte beide sehr verändert. Sie waren gleichsam sehend geworden und
betrachteten einander mit neuen Augen.
    Tonja, die alte Gefährtin,
diese verständliche, keinerlei Erklärungen verlangende Wirklichkeit, war zum
Unerreichbarsten und Kompliziertesten von allem geworden, was Jura sich vorzustellen
vermochte - sie war eine Frau. Bei einiger Bemühung seiner Phantasie konnte er
sich als Ararat-Besteiger, als Held, Prophet, Sieger vorstellen, überhaupt als
alles, nur nicht als Frau.
    Diese überaus schwierige und
alles übersteigende Aufgäbe hatte Tonja auf ihre schwachen, mageren Schultern
geladen (sie kam Jura plötzlich schwach und mager vor, obgleich sie ein
kerngesundes Mädchen war). Er war mit dem heißen Mitgefühl und der zaghaften
Verwunderung für sie erfüllt, die der Anfang von Leidenschaft ist.
    Das Gleiche, nur mit
umgekehrten Vorzeichen, vollzog sich in Tonja in bezug auf Jura.
    Jura fand, sie hätten doch
lieber zu Hause bleiben sollen. Wenn in ihrer Abwesenheit nur nichts passierte!
Er erinnerte sich. Nachdem sie erfahren hatten, daß es Anna Iwanowna schlechter
ging, waren sie, schon ausgehfertig, noch einmal zu ihr gegangen und hatten ihr
angeboten zu bleiben. Sie hatte ebenso heftig wie neulich widersprochen und
verlangt, sie sollten zu dem Fest fahren. Jura und Tonja waren hinter die Gardine
in die tiefe Fensternische getreten, um nach dem Wetter zuschauen. Als sie aus
der Nische heraustraten, hafteten beide Hälften der Tüllgardine an dem Stoff
ihrer neuen Kleider. Das leichte Gewebe schmiegte sich an und wurde von Tonja
ein paar Schritte mitgetragen wie ein Brautschleier. Alle lachten, denn diese
Ähnlichkeit war allen im Schlafzimmer ohne Worte aufgefallen.
    Jura blickte nach beiden
Seiten und sah, was auch Lara schon bemerkt hatte. Ihr Schlitten polterte
unnatürlich laut und weckte einen unnatürlich langen Nachhall unter den
vereisten Bäumen der Parks und Boulevards. Die von innen leuchtenden, bereiften
Fenster der Häuser erinnerten an kostbare Schatullen aus mehrschichtigem
Rauchtopas. In ihnen spielte sich das Weihnachtsleben von Moskau ab, da
brannten Lichtertannen, da drängten sich Gäste, da spielten verkleidete
Possenreißer Versteck und ein Ringelspiel.
    Jura dachte auf einmal, Block
sei eine weihnachtliche Erscheinung in allen Bereichen des russischen Lebens,
im nördlichen Stadtalltag und in der neuesten Literatur, unter dem
Sternenhimmel der gegenwärtigen Straße und rund um die angezündete Lichtertanne
im Salon dieses Jahrhunderts. Er dachte, es bedürfe keines Aufsatzes über
Block, es müsse lediglich eine russische Anbetung der Weisen geschrieben
werden, wie bei den Holländern, mit Frost, Wölfen und einem dunklen Tannenwald.
    Sie fuhren durch die
Kamergerski-Gasse. Jura entdeckte in einem der Fenster ein in die Eisschicht
hineingeschmolzenes schwarzes Loch. Durch dieses Loch schimmerte eine
Kerzenflamme, die fast mit der Bewußtheit eines Blicks auf die Straße drang,
als beobachte das Flämmchen die Vorüberfahrenden und warte auf jemand.
    »Die Kerze brannte... Die
Kerze...«, flüsterte er vor sich hin, es war der Anfang von etwas noch
Unklarem, Unausgereiftem, und er hoffte, die Fortsetzung werde von selbst und
ohne Zwang kommen. Aber sie kam nicht.
     
    Die Weihnachtsfeier bei den
Swentizkis wurde seit undenklichen Zeiten nach dem gleichen Muster
veranstaltet. Um zehn, wenn die Kinder weggebracht waren, wurden die Kerzen am
Baum für die Jugendlichen und Erwachsenen zum zweitenmal angezündet, und man
amüsierte sich bis zum Morgen. Die Älteren droschen die ganze Nacht Karten in
dem pompejanischen Salon mit den drei Wänden, der die Fortsetzung des Saales
und von diesem durch einen schweren Vorhang an großen Bronzeringen getrennt
war. Gegen Morgen nahm die ganze Gesellschaft das Abendessen ein.
    »Warum kommt ihr so spät?«
fragte George, der Neffe der Swentizkis, während er durch die Diele zu Onkel
und Tante in die hinteren Räume eilte. Jura und Tonja wollten auch dorthin, um
die Gastgeber zu begrüßen, und während sie ablegten, warfen sie einen Blick in
den Saal.
    Vorbei an der hitzeatmenden
Tanne, die von mehreren Reihen strömenden Glanzes umgürtet war, bewegte sich
kleiderraschelnd und einander auf die Füße tretend die schwarze Wand der
schlendernden und plaudernden

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