Boris Pasternak
Schwere,
ein Tag der milderen Luft, Tag eines dahingegangenen Lebens, ein Tag, den die
Natur für eine Beerdigung geschaffen zu haben schien. Der schmutzige Schnee
schimmerte gleichsam durch einen darübergeworfenen Trauerflor, und aus den
Gärten blickten mittrauernd feuchte dunkle Tannen wie geschwärztes Silber.
Es war der denkwürdige
Friedhof, auf dem Juras Mutter, Maria Nikolajewna Shiwago, ihre letzte
Ruhestätte gefunden hatte. Er war in den letzten Jahren nicht mehr an ihrem
Grabe gewesen. Mutter, flüsterte er wie damals, als er den Friedhof von weitem
sah.
Die Trauergäste verteilten
sich feierlich und sogar malerisch auf den gefegten Gehwegen, deren Windungen
schlecht zu ihrem leidvoll gemessenen Schritt paßten. Alexander Gromeko führte
Tonja am Arm. Ihnen folgten die Krügers. Die Trauerkleidung stand Tonja sehr
gut.
An den Ketten der Kreuze auf
den Kuppeln und auf den rosa Klostermauern war zottiger Reif, bärtig wie
Schimmel. In der hinteren Ecke des Klosterhofes waren von Mauer zu Mauer Leinen
gespannt, an denen Wäsche zum Trocknen hing — Hemden mit schweren aufgeblähten
Ärmeln, pfirsichfarbene Tischdecken und verzogene, schlecht ausgewrungene Laken.
Jura blickte dorthin und erkannte, daß es die Stelle des Klostergeländes war,
wo damals der Schneesturm getobt hatte, nur standen da jetzt Neubauten.
Jura ging allein, überholte
raschen Schrittes die anderen, blieb von Zeit zu Zeit stehen und wartete auf
sie. Als Antwort auf den verheerenden Zustand, in den der Tod diese langsam von
hinten herbeischreitende Gesellschaft versetzt hatte, wollte er so stürmisch,
wie das Wasser schäumend in die Tiefe stürzt, träumen und nachdenken, an Formen
arbeiten, Schönheit hervorbringen. Wie noch nie zuvor war ihm klar, daß die
Kunst unaufhörlich mit zwei Dingen beschäftigt ist. Sie sinnt immerfort über
den Tod nach und schafft dadurch immerfort Leben. Die große, wahre Kunst, die
die Offenbarung des Johannes genannt wird, und die, die sie fortschreibt.
Jura genoß es begierig im
voraus, wie er für einen oder zwei Tage aus dem Blickfeld der Familie und der
Universität verschwinden und wie er in sein Gedicht für Anna Iwanownas
Seelenheil all das einarbeiten würde, was ihm bis dahin unterkäme: alles
Zufällige, was das Leben ihm zuführte, einige der besten Charakterzüge der
Verstorbenen, die Gestalt Tonjas in Trauerkleidung, ein paar Straßenbeobachtungen
auf dem Rückweg vom Friedhof, die aufgehängte Wäsche an der Stelle, wo vor
langer Zeit nächtlich der Schneesturm geheult und er als kleiner Junge geweint
hatte.
Vierter Teil
Herangereifte
Unausbleiblichkeiten
Lara lag fiebernd im
Schlafzimmer auf dem Bett von Felizita Swentizki. Um sie herum standen raunend
die Swentizkis, Doktor Drokow und Dienstpersonal.
Das leere Haus der Swentizkis
lag in Dunkelheit, nur in der Mitte der langen Zimmerflucht brannte im kleinen
Salon eine trübe Wandlampe, die ihr Licht in den langgestreckten Gang warf.
In dieser Zimmerflucht ging
Komarowski mit bösen, entschlossenen Schritten auf und ab, als wäre er hier
nicht Gast, sondern Hausherr. Ab und an warf er einen Blick in das
Schlafzimmer, um nachzusehen, wie es dort stehe, dann wieder begab er sich ans
andere Ende des Hauses und ging an der Tanne mit ihren Silberkugeln vorbei ins
Eßzimmer, wo sich der Tisch unter den nichtangerührten Speisen bog und wo die
grünlichen Weingläser klirrten, wenn draußen auf der Straße eine Kutsche
vorüberfuhr oder zwischen den Tellern ein Mäuslein übers Tischtuch flitzte.
Komarowski war ganz außer
sich. Widersprüchliche Gefühle drängten sich in seiner Brust. Dieser Skandal,
dieses Aufsehen! Er schäumte vor Wut. Seine Position war in Gefahr. Der Vorfall
drohte seinen Ruf zu untergraben.
Er mußte um jeden Preis, ehe
es zu spät war, allem zuvorkommen, Gerede unterbinden und, wenn sich die
Neuigkeit schon verbreitet hatte, die Gerüchte im Keim ersticken. Überdies
empfand er wieder einmal, wie fesselnd dieses verzweifelte, verrückte Mädchen
war. Man merkte sofort, sie war etwas Besonderes. Sie hatte etwas
Ungewöhnliches. Wie spürbar und irreparabel mußte er ihr das Leben verdorben
haben! Wie sie raste, wie sie meuterte und aufbegehrte, um ihr Leben nach ihrer
Art zu gestalten und neu zu beginnen.
Er würde ihr in jeder Weise
helfen, vielleicht ein Zimmer für sie mieten, sie jedoch nie wieder anrühren,
im Gegenteil, er würde sich von ihr fernhalten und sich zurückziehen, um
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