Boris Pasternak
keinen
Schatten zu werfen, sonst stellte sie womöglich noch sonst etwas an!
Wieviel Scherereien er vor
sich hatte! Für solche Sachen stand immer Ärger zu erwarten. Das Gesetz schlief
nicht. Noch war Nacht, und diese Geschichte lag keine zwei Stunden zurück, doch
schon war zweimal ein Polizist dagewesen, und Komarowski war mit ihm in die
Küche gegangen, um alles zu erklären und beizulegen.
Je länger das Ganze dauerte,
um so komplizierter würde es sein. Er mußte beweisen, daß Lara auf ihn und nicht
auf Kornakow gezielt hatte. Aber auch damit war die Sache nicht ausgestanden.
Ein Teil der Verantwortung würde von Lara genommen, trotzdem käme sie um eine
gerichtliche Untersuchung nicht herum.
Selbstverständlich würde er
das mit allen Kräften zu verhindern suchen, und wenn Anklage erhoben wurde,
mußte er ein psychiatrisches Gutachten beschaffen, wonach Lara im Moment des
Schusses unzurechnungsfähig gewesen sei, und so die Einstellung des Verfahrens
bewirken.
Bei diesen Überlegungen wurde
Komarowski ruhiger. Die Nacht verging. Lichtstreifen eilten von Zimmer zu
Zimmer und spähten unter Tische und Sofas wie Schätzer vom Leihhaus oder Diebe.
Komarowski blickte noch einmal
ins Schlafzimmer und vergewisserte sich, daß es Lara nicht besser ging, dann
fuhr er von den Swentizkis zu einer Bekannten, Juristin und Frau eines
politischen Emigranten, Rufina Onissimowna Woit-Woitkowskaja. Ihre
Achtzimmerwohnung war jetzt für sie allein zu groß und ging über ihre Mittel.
Darum war sie bereit, zwei Zimmer zu vermieten. Das eine war kürzlich frei
geworden, und Komarowski mietete es für Lara. Ein paar Stunden später wurde sie
dorthin gebracht; sie war halb ohnmächtig, hatte Fieber und einen Nervenschock.
Frau Woit-Woitkowskaja war
eine fortschrittliche Frau, haßte Vorurteile und liebte alles, was, wie sie zu
sagen pflegte, »positiv und lebensfähig« war.
Auf ihrer Kommode lag ein
Exemplar des Erfurter Programms mit einem Autogramm des Verfassers. Auf einem
der Fotos an der Wand war ihr Mann, »mein guter Woit«, bei einem Volksfest in
der Schweiz zusammen mit Plechanow aufgenommen. Beide trugen Lüsterjackett und
Panamahut.
Frau Woit-Woitkowskaja mochte
ihre kranke Untermieterin auf den ersten Blick nicht leiden. Sie hielt Lara für
eine boshafte Simulantin. Deren Fieberanfälle empfand sie als vorgetäuscht. Sie
würde bei Gott geschworen haben, daß Lara das wahnsinnige Gretchen im Kerker
spielte.
Frau Woit-Woitkowskaja zeigte
Lara ihre Verachtung durch übertriebene Lebhaftigkeit. Sie knallte mit den
Türen, sang laut und wirbelte durch ihre Räume, die sie tagelang lüftete.
Die Wohnung lag im Obergeschoß
eines großen Hauses am Arbat. Die Fenster dieser Etage füllten sich vom Tag der
Wintersonnenwende an überreichlich mit hellblauem Himmel, wie ein Fluß mit
Hochwasser. Den halben Winter war die Wohnung voll von Merkmalen und Vorboten
des Frühlings.
Durch die Lüftungsfensterchen
blies warmer Südwind, auf den Bahnhöfen brüllten die Lokomotiven, die kranke
Lara im Bett hatte viel Muße und gab sich weitschweifenden Erinnerungen hin.
Oft dachte sie an den ersten
Abend in Moskau, als sie vom Ural hier eingetroffen war, vor sieben oder acht
Jahren, in der unvergessenen Kindheit.
Vom Bahnhof waren sie mit der
Kutsche durch die halbdunklen Gassen quer durch Moskau zum Hotel gefahren. Die
entgegenkommenden und zurückbleibenden Laternen warfen den buckligen Schatten
des Kutschers auf die Hauswände. Der Schatten wuchs und wuchs, erreichte
unnatürliche Ausmaße, bedeckte Fahrdamm und Dächer und riß ab. Dann begann das
Ganze von vorn.
In der Dunkelheit über ihnen
läuteten dröhnend die unzähligen Moskauer Kirchenglocken, eine Pferdebahn
polterte vorüber, aber auch die schreienden Schaufenster und die Lichter
betäubten Lara, als gäben sie ein ständiges Geräusch von sich wie die Glocken
und die Räder.
Auf dem Tisch im Hotelzimmer
erblickte sie verblüfft eine Melone von unwahrscheinlicher Größe, Komarowskis
Willkommensgeschenk. Sie dünkte Lara ein Symbol von Komarowskis Macht und
Reichtum. Als er mit einem krachenden Messerhieb das dunkelgrüne runde Wunderding
mit dem eiskalten zuckrigen Inhalt in zwei Teile spaltete, stockte Lara der
Atem vor Angst, aber sie wagte nicht abzulehnen. Mühsam schluckte sie die
aromatischen rosa Stücke, die ihr vor Erregung im Halse steckenblieben.
Diese Schüchternheit gegenüber
den teuren Leckerbissen und der nächtlichen Hauptstadt
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