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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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Himmelssterne zu ewigen Lämpchen, der
liebe Gott zum Geistlichen, und so fand alles seinen Platz und sein Amt, mehr
oder weniger nach den Fähigkeiten. Das Wichtigste aber waren die wirkliche Welt
der Erwachsenen und die Stadt, die rundum stand wie ein dunkler Wald. Damals
glaubte Jura mit seinem halb tierischen Glauben an den Gott dieses Waldes wie
an den Förster.
    Ganz anders heute. In den
zwölf Jahren an der mittleren und höheren Schule hatte er sich mit dem Altertum
und der Religion, mit den Sagen und Legenden und den Dichtern, mit Geschichts-
und Naturwissenschaften beschäftigt wie auch mit seiner Familienchronik und
seinem Stammbaum. Jetzt fürchtete er nichts mehr, nicht Leben noch Tod, und
alles auf der Welt, alle Dinge waren Wörter seines Wörterbuchs. Er fühlte sich
mit dem Weltall auf gleichem Fuß und stand die Trauerfeier für Anna Iwanowna
ganz anders durch als seinerzeit die für seine Mutter. Damals war er vor
Schmerz außer sich gewesen, hatte sich gefürchtet und gebetet. Jetzt nahm er
den Gottesdienst für das Seelenheil der Verstorbenen als eine Mitteilung auf,
die unmittelbar an ihn gerichtet war und ihn direkt betraf. Er hörte sich
hinein in die Worte und erwartete von ihnen einen verständlich ausgedrückten
Sinn wie von jeder Sache, und es war nichts von Frömmigkeit in seinem
unvergänglichen Gefühl für die höheren Mächte Himmels und der Erde, vor denen
er sich zu verneigen bereit war wie vor großen Vorfahren.
     
    »Heiliger Gott, heiliger
Starker, heiliger Unsterblicher, erbarme dich unser.« Was war das? Wo war er?
Das Hinaustragen. Der Sarg wurde hinausgetragen. Er mußte aufwachen. In der
sechsten Morgenstunde hatte er sich angezogen auf das Sofa fallen lassen.
Wahrscheinlich hatte er Fieber. Jetzt suchten sie ihn im ganzen Hause, und
niemand kam auf die Idee, daß er in der Bibliothek schlief und nicht aufwachen
konnte in seinem Winkel hinter den Bücherregalen, die bis an die Decke
reichten.
    »Jura, Jura!« rief irgendwo in
der Nähe der Hausmeister Markel. Das Hinaustragen begann, Markel sollte die
Kränze auf die Straße bringen, doch er konnte Jura nicht finden, überdies blieb
er im Schlafzimmer stecken, wo sich die Kränze türmten, denn die Tür wurde von
der aufgegangenen Kleiderschranktür festgehalten und ließ ihn nicht hinaus.
    »Markel, Markel! Jura!« riefen
sie unten.
    Markel beseitigte mit einem
Faustschlag das Hindernis und lief mit mehreren Kränzen die Treppe hinunter.
    »Heiliger Gott, heiliger
Starker, heiliger Unsterblicher«, wehte es leise durch die Gasse und schwebte
in ihr, als hätte jemand eine weiche Straußenfeder durch die Luft gezogen, und
alles schwankte: Kränze und Passanten, die Pferdeköpfe mit den Federbüschen,
das Weihrauchfaß an der Kette in der Hand des Geistlichen, die weiße Erde zu
Füßen.
    »Jura! Mein Gott, endlich.
Wach bitte auf«, rief Schura Schlesinger und rüttelte ihn an der Schulter. »Was
hast du? Der Sarg wird hinausgetragen. Kommst du nicht mit?«
    »Doch, natürlich.«
     
    Die Trauerfeier war zu Ende.
Die Bettler traten frierend von einem Bein aufs andere und drängten sich in
zwei Reihen zusammen. Der Leichenwagen schob sich ein wenig vor, ebenso das
zweirädrige Gefährt mit den Kränzen und die Kutsche der Krügers, denn die
Kutscher fuhren näher an die Kirche heran. Aus der Kirche kam verheult Schura
Schlesinger, hob den tränenfeuchten Schleier und ließ den Blick prüfend die
Reihe der Mietdroschken entlanggleiten. Nachdem sie die Sargträger vom
Bestattungsbüro ausgemacht hatte, winkte sie sie mit einer Kopfbewegung zu sich
und verschwand mit ihnen in der Kirche. Immer mehr Leute strömten ins Freie.
    »Nun hat es auch Anna Iwanowna
erwischt. Sie hat sich empfohlen, die Ärmste, sie hat eine weite Reise vor
sich.«
    »Ja, jetzt kann sie nicht mehr
herumflitzen, die Ärmste. Jetzt muß sie sich ausruhn, diese Libelle.«
    »Haben Sie eine Kutsche, oder
fahren Sie mit der Elf?«
    »Meine Beine sind ganz steif
vom Stehen. Wir gehen ein Stückchen und fahren dann.«
    »Haben Sie gesehen, wie Fufkow
leidet? Wie er die Verstorbene angeguckt hat, die Tränen sind nur so geströmt,
geschneuzt hat er sich und hätte sie am liebsten aufgefressen. Dabei stand ihr
Mann daneben.«
    »Das ganze Leben lang hat er
sie mit Blicken verschlungen.«
    Unter solchen Gesprächen
bewegte sich der Zug zum Friedhof am andern Ende der Stadt. An diesem Tag hatte
der starke Frost etwas nachgelassen. Der Tag war erfüllt von regloser

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