Boris Pasternak
eingetroffen, daß er an der dortigen Militärschule
angenommen sei. Sein Abreisetermin rückte heran.
Lara heulte wie ein
Bauernweib, umklammerte Pawels Arme, warf sich ihm zu Füßen.
»Pawel, Pawluscha«, schrie
sie, »wie kannst du mich und Katenka allein lassen? Tu es nicht, tu es nicht!
Es ist noch nicht zu spät. Ich bringe alles in Ordnung. Du warst ja noch nicht
mal richtig beim Arzt. Mit deinem Herzen. Peinlich? Aber die Familie einem
Wahnsinn opfern, das ist wohl nicht peinlich? Als Freiwilliger! Immer hast du
meinen Bruder verspottet, und auf einmal beneidest du ihn! Willst selber mit
dem Säbel rasseln, den Offizier spielen. Pawluscha, was ist los mit dir, ich
erkenne dich nicht wieder! Du bist wie ausgewechselt, oder du bist nicht ganz
bei Trost? Um Himmels willen, um Christi willen, sag mir ehrlich, ohne
einstudierte Phrasen - ist das notwendig für Rußland?«
Plötzlich erkannte sie, daß es
ihm gar nicht darum ging. Unfähig, die Einzelheiten zu erfassen, hatte sie die
Hauptsache begriffen: Pawluscha war sich nicht klar über ihre Haltung zu ihm.
Er wußte das mütterliche Gefühl nicht zu schätzen, das sich bei ihr schon immer
in die Zärtlichkeit zu ihm gemischt hatte, und er ahnte nicht, daß solche Liebe
mehr ist als gewöhnliche Frauenliebe.
Sie biß sich auf die Lippen,
ihr Inneres krampfte sich zusammen, sie war wie erschlagen. Ohne etwas zu
sagen, ihre Tränen herunterschluckend, rüstete sie ihren Mann für die Reise.
Nachdem er abgefahren war, kam
ihr die Stadt still vor, und am Himmel schienen weniger Krähen zu fliegen.
»Gnädige Frau, gnädige Frau«, rief Marfutka vergeblich. »Mama, Mami«, plapperte
Katenka immer wieder und zupfte sie am Ärmel. Es war eine schwere Niederlage in
ihrem Leben. Ihre besten, lichtesten Hoffnungen waren zusammengebrochen.
Durch die Briefe ihres Mannes
aus Sibirien wußte Lara alles von ihm. Er hatte bald größere Klarheit gewonnen
und sehnte sich sehr nach seiner Frau und der Tochter. Ein paar Monate später
wurde er vorfristig als Fähnrich entlassen und zur kämpfenden Armee versetzt.
In höchster Eile fuhr er weitab an Jurjatin vorbei nach Moskau und hatte hier
nicht einmal die Zeit, sich mit jemand zu treffen.
Seine Briefe von der Front
waren lebhafter und nicht mehr so traurig wie die aus Omsk. Er wollte sich
auszeichnen, um als Belohnung für irgendein militärisches Verdienst oder nach
einer leichten Verwundung Urlaub bei seiner Familie machen zu dürfen. Die
Möglichkeit, sich hervorzutun, bot sich bald. Nach dem kürzlich erfolgten Durchbruch,
der später unter dem Namen Brussilow-Offensive bekannt wurde, ging die Armee
zum Angriff vor. Von Pawel kamen keine Briefe mehr. Dies beunruhigte Lara
zunächst nicht. Sie erklärte sich sein Schweigen mit den militärischen Aktionen
und der Unmöglichkeit, auf dem Marsch zu schreiben.
Im Herbst geriet der Vormarsch
der Armee ins Stocken. Die Truppen gruben sich ein. Aber von Pawel kam nach wie
vor kein Lebenszeichen, Lara begann sich Sorgen zu machen und zog Erkundigungen
ein, zunächst in Jurjatin, dann per Post in Moskau und über Pawels letzte
Feldadresse auch an der Front. Nirgends wußte man etwas, von nirgends kam
Antwort.
Wie viele wohltätige Damen im
Kreis Jurjatin hatte auch Lara seit Kriegsbeginn im örtlichen Lazarett
ausgeholfen, das im Jurjatiner Semstwo-Krankenhaus eingerichtet worden war.
Jetzt studierte sie ernsthaft
die Anfangsgründe der Medizin und legte am Krankenhaus ihre Prüfung als
Krankenschwester ab.
In dieser Eigenschaft ließ sie
sich für ein halbes Jahr vom Gymnasium beurlauben, gab die Wohnung in Marfutkas
Obhut und reiste mit Katenka nach Moskau. Hier brachte sie ihre Tochter bei
Lipa unter, deren Mann, der Deutsche Friesendank, mit anderen Zivilgefangenen
in Ufa interniert war.
Angesichts der Erfolglosigkeit
ihres Suchens aus der Entfernung wollte Lara am Schauplatz der kürzlichen
Ereignisse direkt nachforschen. Zu diesem Zweck schloß sie sich als
Krankenschwester einem Sanitätszug an, der über Liski nach Mezö-Labarcs an der
ungarischen Grenze fuhr. So hieß der Ort, aus dem Pawels letzter Brief gekommen
war.
Beim Divisionsstab an der
Front traf ein Zug ein, ausgerüstet von
Spendenmitteln des Tatjaniner Verwundetenhilfekomitees. Mit dem langen Zug aus
unschönen kurzen Güterwaggons, der auch Badegelegenheit bot, waren Gäste
gekommen, Vertreter der Moskauer Öffentlichkeit mit Geschenken an die Soldaten
und Offiziere. Unter ihnen war Mischa
Weitere Kostenlose Bücher