Boris Pasternak
und er nicht oder daß sie
vor ihm schon einem anderen gehört hatte. Diese Furcht, sie könnte ihn
verdächtigen, sie sinnlos kränken zu wollen, brachte etwas Künstliches in ihr
Leben. Sie überboten sich gegenseitig an Edelmut und machten dadurch alles noch
komplizierter.
Eines Tages bekamen die
Antipows Besuch von ein paar Kollegen Pawels, Laras Direktorin vom Gymnasium,
ein Mitglied des Schiedsgerichts, an dem Pawel einmal als Schlichter
aufgetreten war, und anderen. Pawel hielt sie alle für komplette Holzköpfe und
dumme Gänse. Er bestaunte Lara, die zu allen liebenswürdig war, und glaubte
nicht, daß auch nur einer der Gäste ihr aufrichtig gefallen konnte.
Nachdem die Gäste gegangen
waren, lüftete Lara lange, fegte die Zimmer, spülte mit Marfutka in der Küche
das Geschirr. Danach vergewisserte sie sich, daß Katenka gut zugedeckt war und
Pawel schlief, zog sich rasch aus, löschte die Lampe und legte sich neben ihren
Mann mit der Natürlichkeit eines Kindes, das zur Mutter ins Bett darf.
Aber Pawel tat nur so, als ob
er schlief. Wie so oft in letzter Zeit litt er an Schlaflosigkeit. Er wußte,
daß er sich noch drei oder vier Stunden schlaflos im Bett wälzen würde. Um sich
den Schlaf zu erwandern und dem von den Gästen zurückgelassenen Tabaksqualm zu
entfliehen, erhob er sich leise, setzte die Fellmütze auf, zog den Pelzmantel
über die Unterwäsche und ging hinaus.
Es war eine frostklare
Herbstnacht. Unter Pawels Schritten zerkrachten die zugefrorenen Pfützen. Der
Sternenhimmel beschien wie ein flackerndes hellblaues Spritflämmchen die
schwarze Erde mit den gefrorenen Schlammklumpen.
Das Haus der Antipows lag in
dem Stadtteil gegenüber dem Flußhafen. Es war das letzte in der Straße. Gleich
dahinter begann das Feld, durch das sich die Eisenbahnstrecke schnitt. An der
Strecke stand ein Wärterhäuschen. Hier gab es eine Überfahrt.
Pawel setzte sich auf das
umgekehrte Boot und blickte hoch zu den Sternen. Gedanken, an die er sich in
den letzten Jahren gewöhnt hatte, packten ihn mit beunruhigender Kraft. Er sah,
daß er sie früher oder später würde zu Ende denken müssen, und so war es am
besten, dies heute zu tun.
So kann es nicht weitergehen.
Aber das hätte ich voraussehen können, ich bin zu spät daraufgekommen. Warum
hat sie zugelassen, daß ich mich wie ein Kind in sie vergucke, und warum macht
sie mit mir, was sie will? Warum habe ich nicht rechtzeitig soviel Verstand
gehabt, auf sie zu verzichten, als sie es selber wollte im Winter vor der
Hochzeit? Weiß ich denn nicht, daß sie nicht mich liebt, sondern ihre edle
Aufgabe in bezug auf mich, die in ihr verkörperte gute Tat? Was hat denn ihre
beseelte und löbliche Mission mit wirklichem Familienleben zu tun? Am
schlimmsten ist, daß ich sie noch immer so liebe wie früher. Sie ist betörend
schön. Vielleicht ist es bei mir nicht Liebe, sondern Dankbarkeit und
Verwirrung angesichts ihrer Schönheit und Großmut? Puh, da soll sich einer
auskennen! Hier wäre selbst der Teufel ratlos.
Was ist also zu tun? Soll ich
Lara und Katenka von dieser Unaufrichtigkeit befreien? Das ist sogar noch wichtiger
als meine eigene Befreiung. Gut, aber wie? Soll ich mich scheiden lassen? Ins
Wasser gehen? Pfui, wie scheußlich! Das tue ich ja doch nie. Wozu also nenne
ich diese effektvollen Gräßlichkeiten auch nur in Gedanken beim Namen?
Er blickte zu den Sternen auf,
als erwartete er von ihnen eine Antwort. Sie flimmerten, häufig und spärlich,
groß und klein, blau und bunt schillernd. Auf einmal wurde der Sternenglanz
dunkler, und der Hof mit dem Haus, dem Boot und dem darauf sitzenden Pawel
wurde von einem grellen, huschenden Licht erleuchtet, als liefe jemand vom Feld
zum Tor und schwenkte eine brennende Fackel. Es war ein Militärzug, der
Schwaden gelben, feurig durchdrungenen Qualms ausstieß; er brauste an der
Überfahrt vorbei gen Westen wie seit dem vergangenen Jahr unzählige Züge, Tag
und Nacht.
Pawel Antipow lächelte, stand
vom Boot auf und ging schlafen. Der ersehnte Ausweg war gefunden.
Lara erstarrte vor Schreck und
wollte ihren Ohren nicht trauen, als Pawel ihr seinen Entschluß mitteilte.
Blödsinn. Eine neue Schrulle, dachte sie.
Ich darf nichts darauf geben,
er wird es von selbst wieder vergessen.
Sie erfuhr jedoch, daß ihr
Mann seine Vorbereitungen schon seit zwei Wochen betrieb; seine Papiere lagen
im Militäramt, für das Gymnasium hatte er einen Vertreter gefunden, und aus
Omsk war die Nachricht
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