Boris Pasternak
Papierfetzen übersät.
Am Fenster stand der
schwammige Prosektor und betrachtete mit erhobenen Händen über die Brille
hinweg gegen das Licht ein Fläschchen mit einer trüben Flüssigkeit.
»Gratuliere«, sagte er,
betrachtete weiterhin das Fläschchen und würdigte Juri Shiwago keines Blicks.
»Danke. Ich bin gerührt.«
»Es bedarf keines Danks. Ich
habe nichts damit zu tun. Pitschushkin hat die Obduktion gemacht. Aber alle
sind verblüfft. Echinokokken. Ein vorzüglicher Diagnostiker, sagen alle. Sie
sind das Tagesgespräch.«
In diesem Moment betrat der
Chefarzt das Zimmer. Er begrüßte beide und sagte: »Verdammt noch mal, das ist ja
hier der reinste Durchgangshof! So was von Schweinerei! Ja, Shiwago, stellen
Sie sich vor, Echinokokken! Wir haben uns geirrt. Gratuliere. Aber es gibt eine
unangenehme Neuigkeit. Ihre Kategorie ist nochmals überprüft worden. Diesmal
wird es uns nicht gelingen, Sie hierzubehalten. Es herrscht ein gewaltiger
Mangel an Militärärzten. Sie werden Pulver riechen müssen.«
Die Antipows hatten sich
besser als erwartet in Jurjatin eingelebt. Die Guichards waren hier in guter Erinnerung.
Das erleichterte es Lara, sich am neuen Wohnort einzurichten.
Sie hatte unendlich viel zu
tun. Sie mußte sich um das Haus und um das dreijährige Töchterchen Katenka
kümmern. Die rothaarige Marfutka, ihre Hausgehilfin, konnte sich noch solche
Mühe geben, ihre Hilfe reichte nicht aus. Lara nahm immer mehr Anteil an den
Angelegenheiten ihres Mannes. Sie selbst unterrichtete im Mädchengymnasium. Sie
arbeitete unermüdlich und war glücklich dabei. Es war genau das Leben, das sie
sich erträumt hatte.
Es gefiel ihr in Jurjatin.
Ihre Heimatstadt lag an dem großen Fluß Rynwa, der in seinem Mittel- und
Unterlauf schiffbar war, und an einer der Eisenbahnstrecken, die den Ural
durchquerten.
Das Herannahen des Winters war
in Jurjatin dadurch gekennzeichnet, daß die Bootseigner ihre Boote auf
Handwagen vom Fluß in die Stadt auf ihre Höfe schafften, wo sie bis zum
Frühjahr unter freiem Himmel überwinterten. Die kieloben auf den Höfen
abgestellten weißen Boote hatten in Jurjatin die gleiche Bedeutung wie anderswo
die herbstlichen Kranichzüge oder der erste Schnee.
Ein solches Boot, unter dem
Katenka spielte wie unter dem gewölbten Dach eines Gartenpavillons, lag mit
weißgestrichenem Boden auch im Hof des Hauses, das die Antipows angemietet
hatten.
Lara gefielen die
Gepflogenheiten in dem Krähwinkel, die ortsansässige Intelligenz, die nach
nördlicher Art das O betonte, die Filzstiefel und warme graue Flanelljacken
trug, und ihre naive Vertraulichkeit. Es zog Lara zum Land und zum einfachen
Volk.
Seltsamerweise war ausgerechnet
der Moskauer Eisenbahnersohn Pawel Antipow ein echter Großstädter. Zu den Jurj
atinern hatte er ein viel kritischeres Verhältnis als seine Frau. Ihre Wildheit
und Unwissenheit versetzten ihn in Gereiztheit.
Jetzt nachträglich stellte
sich heraus, daß er ungewöhnlich befähigt war, aus flüchtiger Lektüre Wissen zu
schöpfen und zu bewahren. Schon früher hatte er, zum Teil von Lara beraten,
sehr viel gelesen. In den Jahren der provinziellen Abgeschiedenheit wurde seine
Belesenheit so groß, daß selbst Laras Wissen ihm unzureichend vorkam. An
pädagogischem Wissen überragte er seine Kollegen um Haupteslänge, und er
beklagte sich, unter ihnen zu ersticken. In dieser Kriegszeit entsprach deren
verbreiteter und ein wenig säuerlicher Patriotismus nicht dem komplizierten
Gefühl, das Antipow hegte.
Er hatte Altertumswissenschaft
studiert. Am Gymnasium unterrichtete er Latein und frühe Geschichte. Aber in
ihm, dem ehemaligen Realschüler, erwachte auf einmal die schon fast
verschüttete Leidenschaft für Mathematik, Physik und exakte Wissenschaften. Als
Autodidakt eignete er sich diese Fächer so gründlich an, als hätte er sie an
der Universität studiert. Bei der ersten Gelegenheit wollte er bei der
Kreisschulbehörde die entsprechenden Prüfungen ablegen, als Mathematiklehrer
neu beginnen und mit der Familie nach Petersburg ziehen. Seine verstärkten
nächtlichen Studien erschütterten seine Gesundheit, und er litt an
Schlaflosigkeit.
Mit seiner Frau hatte er gute,
aber recht komplizierte Beziehungen. Sie erdrückte ihn mit ihrer Güte und
Obsorge, doch er nahm sich nicht heraus, sie zu kritisieren. Er fürchtete, sie
könnte aus einer noch so harmlosen Bemerkung einen verborgenen Vorwurf
heraushören, dahingehend etwa, daß sie blaublütig sei
Weitere Kostenlose Bücher