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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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zu ihnen ins Regiment kam, war Galiullin verblüfft, wie sehr sein
alter Freund sich verändert hatte. Aus dem schüchternen, mädchenhaften,
lachlustigen, reinlichen Jungen war ein nervöser, um alles in der Welt
wissender, von Verachtung erfüllter Hypochonder geworden. Er war klug, sehr
tapfer, wortkarg und spottlustig. Wenn Galiullin ihn manchmal ansah, hätte er
schwören mögen, in Antipows schwerem Blick wie in einem tiefen Fenster einen in
ihm bohrenden Gedanken zu erkennen oder Sehnsucht nach der Tochter oder das
Gesicht seiner Frau. Antipow schien verzaubert wie im Märchen. Und nun war er
nicht mehr, und Galiullin hatte seine Papiere und Fotografien und das Geheimnis
seiner Verwandlung in Händen. Früher oder später mußten Laras Nachforschungen
ihn erreichen. Er würde ihr antworten. Aber es war eine heiße Zeit. Ausführlich
zu antworten hatte er nicht die Kraft. Er wollte sie vorbereiten auf den
Schlag, der sie erwartete. Darum schob er den Brief an sie so lange vor sich
her, bis er erfuhr, daß sie selbst als Krankenschwester irgendwo an der Front
war. Nun wußte er nicht, wohin er den Brief adressieren sollte.
     
    »Na, was ist? Kriegen wir
heute Pferde?« fragte Gordon, als Doktor Shiwago zum Mittagessen in das
galizische Bauernhaus kam, in dem sie ihr Quartier hatten.
    »Was denn für Pferde? Und wo
willst du hin, wenn es weder vor noch zurück geht? Ringsum herrscht ein
schreckliches Durcheinander. Niemand weiß Genaues. Im Süden haben wir die
deutsche Front an mehreren Stellen umgangen oder durchbrochen, dabei sollen ein
paar von unseren Truppenteilen eingekesselt worden sein, und im Norden haben
die Deutschen die Swenta überschritten, die an dieser Stelle als unpassierbar
gegolten hatte. Es handelt sich um Kavallerie bis zur Korpsstärke. Sie
zerstören Eisenbahngleise, vernichten Depots und stehen nach meiner Meinung im
Begriff, uns zu umgehen. So ist die Lage. Und du willst Pferde haben. Na los,
Karpenko, tisch auf, beweg dich. Was haben wir heute? Ah, Kalbsfüße.
Wunderbar.«
    Die Sanitätsabteilung mit dem
Lazarett und den ihr unterstellten Abteilungen war in einem Dorf untergekommen,
das wie durch ein Wunder heil geblieben war. Die Häuser, die nach westlicher
Art blanke niedrige Fenster mit vielen Flügeln über die ganze Wand hatten, waren
sämtlich unversehrt.
    Es war Altweibersommer, die
letzten klaren Tage eines warmen goldenen Herbstes. Tagsüber hielten Ärzte und
Offiziere die Fenster offen, machten Jagd auf die Fliegen, die in schwarzen
Schwärmen auf den Fensterbrettern und der weißen Tapete an der niedrigen Decke
herumkrochen, ließen schweißüberströmt die Uniformröcke und Feldblusen offen
und verbrühten sich mit heißer Kohlsuppe oder mit Tee, in der Nacht aber
hockten sie vor den offenen Ofenklappen, pusteten auf die erlöschenden Kohlen
unter den feuchten Holzscheiten, die nicht brennen wollten, und beschimpften
mit tränenden Augen ihre Burschen, die es nicht verstanden, anständig zu
heizen.
    Die Nacht war still. Gordon
und Juri Shiwago lagen auf Bänken an den gegenüberliegenden Wänden. Zwischen
ihnen waren der Eßtisch und das breite, niedrige, von Wand zu Wand reichende
Fenster. Das Zimmer war überheizt und vollgeraucht. Sie hatten die beiden
äußeren Fensterflügel geöffnet und atmeten die nächtliche Herbstfrische, von
der die Scheiben beschlugen.
    Sie unterhielten sich wie all
die letzten Tage und Nächte. Wie immer flammte rötlich der Horizont in Richtung
der Front, und wenn in das gleichmäßige, keinen Moment verstummende Grollen der
Kanonade tiefere, einzeln unterscheidbare, schwere Schläge fielen, die das
Erdreich zu verschieben schienen, unterbrach Shiwago das Gespräch aus Respekt
vor diesem Ton, machte eine Pause und sagte: »Das war die Dicke Berta, ein
deutsches Zweiundvierzigzentimetergeschütz; die Granaten wiegen sechzig Pud das
Stück.« Dann setzten sie ihre Unterhaltung fort, ohne noch zu wissen, wovon sie
gesprochen hatten.
    »Wonach riecht das hier im
Dorf?« fragte Gordon. »Es ist mir gleich am ersten Tag aufgefallen. So
fettig-süßlich und abscheulich. Wie nach Mäusen.«
    »Ach, ich weiß, was du meinst.
Das ist Hanf. Es gibt hier viele Hanffelder. Der Hanf hat an sich schon einen
peinigenden, aufdringlichen Aasgeruch. Außerdem ist dies Kampfgebiet.
Gefallene, die im Hanf liegenbleiben, werden lange nicht entdeckt und verwesen.
Leichengeruch ist hier natürlich sehr verbreitet. Da, schon wieder die Dicke
Berta. Hast du

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