Boris Pasternak
Gordon. Er hatte erfahren, daß das
Divisionslazarett, in dem nach seinen Informationen sein alter Freund Juri
Shiwago arbeitete, in einem nahen Dorf stationiert war.
Gordon besorgte sich die
Erlaubnis für den Aufenthalt in der frontnahen Zone und fuhr mit dem
Passierschein auf einem Militärfuhrwerk den Freund besuchen.
Der Fuhrmann, ein Belorusse
oder Litauer, sprach schlecht russisch. Die Furcht vor Spionen reduzierte seine
Worte auf das bekannte amtliche Muster. Seine zur Schau getragene
Regierungstreue stimmte nicht gesprächig. Fuhrmann und Mitreisender schwiegen
den größten Teil des Weges.
Im Stab, wo man es gewöhnt
war, ganze Armeen zu bewegen und
Entfernungen in Hundertwerstmärschen zu messen, hatte man ihm versichert, das
Dorf läge ganz in der Nähe, zwanzig oder fünfundzwanzig Werst. In Wirklichkeit
waren es mehr als achtzig Werst.
Während der ganzen Fahrt gab
es am Horizont zu ihrer Linken ein unfreundliches Grummein und Grollen. Gordon
war noch nie Zeuge eines Erdbebens gewesen. Er dachte jedoch ganz richtig, daß
das mürrische und aus der Entfernung kaum hörbare Bullern der feindlichen
Artillerie am ehesten mit Erdstößen und mit Geräuschen vulkanischen Ursprungs
vergleichbar sei. Als es Abend wurde, glimmte der untere Himmelsrand dort in
rosa Flackerlicht, das bis zum Morgen nicht erlöschen wollte.
Sie fuhren durch zerstörte
Dörfer. Ein Teil davon war von den Einwohnern verlassen. In anderen hausten die
Menschen in den Kellern, tief unter der Erde. Solche Dörfer waren Müll- und
Schutthaufen längs der Straße, an der früher die Häuser gestanden hatten. Die
verbrannten Siedlungen waren von einem zum andern Ende überschaubar wie
Odplätze ohne Vegetation. An ihrer Oberfläche wimmelten alte Frauen, jede auf
ihrer eigenen Brandstätte, um noch etwas aus der Asche zu graben und irgendwo
zu verstecken, und sie wähnten sich vor fremden Blicken geschützt, als hätten
sie noch die früheren Wände um sich. Mit ihren Blicken begrüßten und verfolgten
sie Gordon, als wollten sie ihn fragen, ob die Welt bald wieder zur Vernunft
käme und Ruhe und Ordnung zurückkehrten.
In der Nacht trafen die
Reisenden auf einen Streiftrupp. Ihnen wurde befohlen, von der Straße
abzubiegen und die ganze Gegend weiträumig zu umfahren. Der Fuhrmann kannte den
neuen Weg nicht. Zwei Stunden lang irrten sie sinnlos herum. Beim Morgengrauen
gelangten sie in eine Siedlung, die den betreffenden Namen trug. Hier hatte man
nichts von einem Lazarett gehört. Es stellte sich heraus, daß es in der Gegend
zwei gleichnamige Dörfer gab und das gesuchte das andere war. Am Vormittag
erreichten sie ihr Ziel. Als sie an der Dorfumfriedung entlangfuhren, die nach
Kamille und Jodoform roch, dachte Gordon, er werde nicht bei Juri Shiwago
übernachten, sondern den Tag mit ihm verbringen und am Abend zu der Bahnstation
und seinen Kameraden zurückkehren. Die Umstände jedoch hielten ihn länger als
eine Woche hier fest.
In diesen Tagen geriet die
Front in Bewegung. Es kam zu plötzlichen Veränderungen. Südlich des Geländes,
in das Gordon gereist war, durchbrach einer unserer Verbände mit einem
erfolgreichen Angriff einzelner seiner Truppenteile die befestigten Stellungen
des Gegners. Um ihren Vorstoß auszubauen, drangen die Angreifer immer tiefer in
die gegnerische Verteidigung ein. Ihr folgten Hilfskräfte, die den Durchbruch
erweiterten. Sie blieben jedoch allmählich zurück und lösten sich von der
Spitzeneinheit. Das führte zu deren Gefangennahme. Dabei geriet auch Fähnrich
Antipow in Gefangenschaft, weil seine halbe Kompanie sich ergeben hatte.
Gerüchte gingen um, er wäre
gefallen und in einem Granattrichter verschüttet worden. Dies bezeugte ein
Bekannter von ihm, sein Regimentskamerad Leutnant Galiullin, der seinen Tod von
der Beobachtungsstelle aus durchs Fernglas beobachtet haben wollte, als Antipow
mit seinen Soldaten zum Angriff vorging.
Galiullins Augen bot sich der
vertraute Anblick einer Infanterieattacke. Die Truppe mußte mit schnellen
Schritten, fast laufend, das herbstliche Feld zwischen den beiden Armeen
überwinden, das mit im Wind schwankendem Beifuß und reglos aufragenden
stachligen Disteln bewuchert war. Mit der Dreistigkeit ihres tollkühnen
Vorstoßes sollten die Soldaten den Gegner zum Bajonettangriff herausfordern
oder aber die in ihren Gräben gebliebenen Österreicher mit Handgranaten
zudecken und vernichten. Das Feld kam den Laufenden endlos vor. Unter ihren
Füßen wogte
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