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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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wutschäumend
einen kompetenteren Menschen zu sprechen. »Die Symptome sind trügerisch«, sagte
ihm die Schwester, »beunruhigen Sie sich nicht, Herr Doktor, aber Sie werden
noch zwei oder drei Tage warten müssen.«
    Am dritten Tag erfuhr er, in
der Nacht hätten die Wehen eingesetzt, am frühen Morgen sei das Fruchtwasser
abgegangen, und seitdem hörten die heftigen Wehen nicht mehr auf.
    Hals über Kopf stürzte er in
die Klinik, und als er den Korridor entlangging, vernahm er durch die zufällig
halboffene Tür die herzzerreißenden Schreie Tonjas - so schreien Verunglückte,
die mit abgefahrenen Gliedmaßen unter den Wagenrädern hervorgezogen werden.
    Er durfte nicht zu ihr.
Während er den im Gelenk gebogenen Finger blutig biß, trat er zum Fenster, vor
dem der gleiche schräge Regen strömte wie gestern und vorgestern.
    Aus Tonjas Zimmer kam die
Krankenwärterin. Juri Shiwago hörte das Piepsen des neugeborenen Kindes.
    Gerettet, gerettet, sagte er
sich voller Freude.
    »Ein Söhnchen. Ein Junge. Ich
gratuliere zur glücklichen Geburt«, sagte die Krankenwärterin singend. »Jetzt
können Sie nicht hinein. Wenn es soweit ist, zeigen wir's Ihnen. Dann müssen
Sie der Wöchnerin ein gutes Geschenk machen. Sie hat schrecklich gelitten. Es
ist ihr erstes Kind. Mit dem ersten ist es immer eine Qual.«
    Gerettet, gerettet,
wiederholte Juri Shiwago froh, ohne zu begreifen, was die Krankenwärterin
gesagt und warum sie ihn mit ihren Worten zum Teilnehmer des Ereignisses
gemacht hatte. Was eigentlich hatte er damit zu tun? Vater, Sohn — er sah
keinen Anlaß zum Stolz in dieser Vaterschaft, die er umsonst bekommen hatte,
und er empfand nichts beim Gedanken an den vom Himmel gefallenen Sohn. All das
lag außerhalb seines Bewußtseins. Das Wichtigste war Tonja, Tonja, die sich in
Todesgefahr begeben hatte und ihr glücklich entgangen war.
    Einer seiner Patienten wohnte
unweit der Klinik. Juri Shiwago suchte ihn auf und kehrte eine halbe Stunde
später zurück. Die beiden Türen von Tonjas Zimmer standen wieder halb offen.
Ohne sich seines Tuns bewußt zu sein, schlüpfte er in den Windfang. Mit
ausgebreiteten Armen wuchs vor ihm der Gynäkologe, das Mastodont, im weißen
Kittel aus dem Boden.
    »Wohin?« fragte er erstickt
flüsternd, damit es die Wöchnerin nicht hörte, und vertrat ihm den Weg. »Sind
Sie verrückt? Wunden, Blut, Antisepsis, von der seelischen Erschütterung ganz
zu schweigen. Sie sind mir einer! Und das will Arzt sein.«
    »Aber ich... Ich wollte doch
nur einen Blick... Von hier aus. Durch den Türspalt.«
    »Na, das ist etwas anderes.
Das geht. Aber auf keinen Fall weiter... Sehen Sie hin! Wenn sie es merkt,
bring ich Sie um, dann bleibt nichts an Ihnen heil!«
    In dem Krankenzimmer standen
mit dem Rücken zur Tür zwei Frauen im Kittel, die Hebamme und eine Pflegerin.
Im Arm der Pflegerin bewegte sich angestrengt und piepsend ein zarter
Menschensproß, zog sich zusammen und dehnte sich wie ein Stück dunkelroter
Gummi. Die Hebamme band den Nabel ab, um das Kind von der Nachgeburt zu
trennen. Tonja lag auf einem chirurgischen Bett mit hochgestelltem Kopfteil.
Ihr Mann, der vor Erregung alles übertrieben sah, hatte den Eindruck, als läge
sie in der Höhe eines Schreibpults.
    Tonja, die höher gebettet war
als gewöhnliche Sterbliche, versank in den Dämpfen der durchgestandenen Leiden,
qualmte sozusagen vor Erschöpfung. Sie lag mitten im Zimmer wie eine Barke in
der Bucht, die soeben Anker geworfen hat und nun ihre Ladung löscht, nachdem
sie von irgendwo neue Seelen über das Meer des Todes zum Festland des Lebens in
diese Bucht gebracht hat. Gerade hat sie eine dieser Seelen an Land gesetzt und
liegt jetzt vor Anker, genießt mit leerem Leib die Erholung. Mit ihr erholen
sich die erschütterte und überbeanspruchte Takelage und Beplankung, und sie
vergißt allmählich, wo sie noch vor kurzem war, was sie herbrachte und wie sie
Anker warf.
    Und da niemand die Geographie
des Landes kannte, unter dessen Flagge sie festgemacht hatte, wußte niemand, in
welcher Sprache man sie anreden konnte.
    In seinem Krankenhaus
gratulierten ihm alle um die Wette. Wie schnell sie es erfahren haben! dachte
Juri Shiwago verwundert.
    Er ging ins Ärztezimmer, das
Kneipe oder Müllgrube genannt wurde, denn das Krankenhaus war so überbelegt,
daß man sich in diesem Raum umzog, in Galoschen hereinkam und Gegenstände
vergaß, die man aus anderen Räumen mitgenommen hatte; der Fußboden war mit
Zigarettenstummeln und

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