Boris Pasternak
unterhalten sich, nächtliche Blumen philosophieren,
und steinerne Gebäude halten Meetings ab. Es ist wie im Evangelium, nicht wahr?
Wie zur Zeit der Apostel. Erinnern Sie sich, wie es bei Paulus heißt? >Redet
mit Zungen und weissagt und betet um die Gabe der Deutung<.«
»Das mit den Bäumen und
Sternen, die Meetings abhalten, verstehe ich, und ich weiß, was Sie sagen
wollen. Ich habe das auch schon erlebt.«
»Die Hälfte hat der Krieg
getan, den Rest hat die Revolution besorgt. Der Krieg war eine künstliche
Unterbrechung des Lebens, als ob man das Dasein eine Zeitlang aussetzen könnte
— wie sinnlos! Die Revolution hat sich wider Willen losgerissen wie ein zu
lange zurückgehaltener Seufzer. Jeder ist aufgelebt, neugeboren, alle erfahren
Verwandlungen, Umstürze. Man könnte sagen: Jeder hat zwei Revolutionen
mitgemacht, seine persönliche und die allgemeine. Ich glaube, der Sozialismus
ist ein Meer, in das wie Bäche alle diese persönlichen Revolutionen einmünden
müssen, ein Meer des Lebens, ein Meer der Eigenständigkeit. Ein Meer des
Lebens, möchte ich sagen, des Lebens, das man auf Bildern sehen kann, des
genialisierten, schöpferisch bereicherten Lebens. Aber die Menschen sind jetzt
entschlossen, es nicht in Büchern, sondern an sich selbst zu erproben, nicht in
der Abstraktion, sondern in der Praxis.«
Ein plötzliches Zittern seiner
Stimme verriet seine Erregung. Schwester Antipowa unterbrach ihr Plätten und
sah ihn ernst und verwundert an. In seiner Verwirrung vergaß er, worüber er
gesprochen hatte. Nach einer kurzen Pause redete er weiter, sprudelte er
hervor: »In diesen Tagen möchte man so gern ehrlich und produktiv leben! Man
möchte so gern ein Teil der allgemeinen Begeisterung sein! Und inmitten der
Freude, die alle erfaßt hat, sehe ich Ihren rätselhaft unfrohen Blick, der
irgendwo hinter den sieben Bergen umherirrt. Was würde ich nicht darum geben,
wenn es ihn nicht gäbe, wenn in Ihrem Gesicht geschrieben stünde, daß Sie
zufrieden sind und von niemandem etwas brauchen. Wenn irgendein Ihnen
nahestehender Mensch, Ihr Freund oder Ehemann (am besten, er wäre Offizier)
mich bei der Hand nähme und bäte, mich nicht um Sie zu kümmern und Sie nicht
mit meiner Aufmerksamkeit zu belasten. Dann würde ich die Hand losreißen, würde
ausholen und... Ach, ich vergesse mich! Verzeihen Sie bitte!«
Wieder versagte ihm die
Stimme. Er fuchtelte mit der Hand, stand auf mit dem Gefühl, eine nicht
wiedergutzumachende Peinlichkeit begangen zu haben, und trat ans Fenster. Dort
stand er mit dem Rücken zum Zimmer, die Wange in der Hand, den Ellbogen auf dem
Fensterbrett, und richtete den zerstreuten, nach Frieden suchenden, blinden
Blick in den dunklen Park.
Schwester Antipowa umging das
Plättbrett, das auf der Stuhllehne und dem anderen Fensterbrett lag, und blieb
ein paar Schritte vor dem Arzt stehen.
»Ach, wie ich das immer
gefürchtet habe!« sagte sie leise wie zu sich selbst. »Was für eine
verhängnisvolle Verirrung! Hören Sie auf, Juri Andrejewitsch, nicht doch. Ach,
sehen Sie nur, was ich Ihretwegen angerichtet habe!« rief sie laut und eilte zu
dem Plättbrett, wo unter dem Eisen, das sie stehengelassen hatte, von der
versengten Bluse ein dünner Schleier beißenden Rauchs aufstieg. »Juri
Andrejewitsch«, fuhr sie fort und stellte das Bügeleisen mit einem ärgerlichen
Ruck auf den Untersatz. »Juri Andrejewitsch, seien Sie vernünftig, gehen Sie
für einen Moment zu Mademoiselle, trinken Sie ein Glas Wasser, mein Bester, und
kommen Sie so wieder her, wie ich Sie kenne und sehen möchte. Hören Sie, Juri
Andrejewitsch? Ich weiß, Sie haben die Kraft dazu. Tun Sie es, ich bitte Sie.«
Zu solchen Unterredungen zwischen
ihnen kam es nicht mehr. Eine Woche später reiste Schwester Antipowa ab.
Einige Zeit später rüstete
auch Shiwago zur Reise. In der Nacht vor seiner Abfahrt gab es in Meljusejew
einen schrecklichen Sturm.
Der Lärm des Orkans verschmolz
mit dem Rauschen des Sturzregens, der bald senkrecht auf die Dächer
niederprallte, bald unter dem Druck der Windstöße die Straße entlangfegte, die
er mit seinen peitschenden Strömen Schritt für Schritt zu erobern schien.
Die Donnerschläge folgten ohne
Pause aufeinander und vereinigten sich zu einem gleichmäßigen Dröhnen. Im
grellen Licht der häufigen Blitze zeigte sich eine Straße, die mit den sich
biegenden und in die gleiche Richtung laufenden Bäumen in die Ferne zu eilen
schien.
In der Nacht
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