Boris Pasternak
wurde
Mademoiselle Fleury von einem alarmierenden Klopfen an der Haustür geweckt.
Erschrocken fuhr sie im Bett hoch und horchte. Das Klopfen hörte nicht auf.
Findet sich denn im ganzen
Lazarett keine Menschenseele, die hinausgeht und öffnet? dachte sie. Muß ich
wirklich für alle den Kopf hinhalten, ich unglückliche alte Frau, nur weil die
Natur mir Ehrlichkeit und Pflichtgefühl gegeben hat?
Nun gut, die Shabrinskis waren
reiche Leute, Aristokraten. Aber das Lazarett gehört doch uns, dem Volk. Wie
haben sie es im Stich lassen können? Wohin sind zum Beispiel die Sanitäter
verschwunden? Alle sind weggelaufen, die Vorgesetzten, die Schwestern, die
Ärzte. Dabei sind im Haus noch Verwundete, zwei Beinamputierte oben in der
Chirurgie, wo früher der Salon war, und der Vorratsraum unten neben der
Wäscherei liegt voller Ruhrkranker. Die verdammte Ustinja ist irgend jemanden
besuchen gegangen. Dabei hat die dumme Gans gesehen, daß ein Gewitter aufzieht,
aber nein, der Böse hat sie davongetrieben.
Jetzt hat sie einen guten
Vorwand, bei fremden Leuten zu übernachten.
Na, Gott sei Dank, das Klopfen
hat aufgehört, jetzt ist Ruhe. Hat gesehen, daß nicht aufgemacht wird, und ist
gegangen, hat darauf gepfiffen. Wer läuft auch rum bei diesem Sauwetter? Aber
vielleicht war es Ustinja? Nein, die hat einen Schlüssel. Mein Gott,
schrecklich, es klopft schon wieder!
Eine richtige Gemeinheit ist
das! Von Shiwago kann ich es nicht verlangen. Der reist morgen ab und ist mit
seinen Gedanken schon in Moskau oder unterwegs. Aber Galiullin, wie kann der
pennen oder ruhig liegen, wenn er das Klopfen hört? Er hofft wohl, daß ich
letzten Endes doch aufstehe, ich schwache und schutzlose alte Frau, und die Tür
aufmache, dabei weiß ich nicht, wer davorsteht in dieser schrecklichen Nacht,
in diesem schrecklichen Land.
Galiullin! besann sie sich
plötzlich. Wieso Galiullin? Nein, solch eine Dummheit konnte ihr nur in der
Schlaftrunkenheit in den Kopf kommen! Galiullin war doch spurlos verschwunden!
Hatte sie ihn nicht selber zusammen mit Shiwago versteckt und ihm Zivilkleider
gegeben und ihm dann erklärt, durch welche Straßen und Dörfer in dieser Gegend
er fliehen konnte, nachdem sich auf der Bahnstation diese gräßliche
Selbstjustiz ereignet hatte, bei der Kommissar Hinz ermordet wurde, und
Galiullin von Birjutschi bis nach Meljusejew verfolgt und hinter ihm
hergeschossen und er in der ganzen Stadt gesucht wurde. Galiullin!
Wären damals nicht die Panzer
gewesen, so würde in der Stadt kein Stein auf dem anderen geblieben sein. Die
Panzerabteilung war ganz zufällig durch die Stadt gekommen. Sie hatte die
Einwohnerschaft in Schutz genommen und die Banditen gezügelt.
Das Gewitter wurde schwächer
und entfernte sich. Es donnerte immer seltener und dumpfer in der Ferne. Der
Regen hörte zeitweilig auf, doch es rieselte weiterhin von den Bäumen und
Regenrinnen. Der lautlose Widerschein der Blitze fiel in das Zimmer von
Mademoiselle, beleuchtete es und verharrte einen Moment darin, wie um etwas zu
suchen.
Plötzlich ging das
unterbrochene Klopfen an der Tür wieder los. Jemand suchte Hilfe und klopfte
verzweifelt immer schneller. Der Wind wurde stärker. Auch neuer Regen setzte
ein.
»Ich komme!« rief Mademoiselle
und erschrak über ihre eigene Stimme.
In einer plötzlichen
Erleuchtung schob sie die Beine aus dem Bett, fuhr in die Pantoffeln, warf den
Bademantel über und lief Shiwago wecken, um sich nicht allein fürchten zu
müssen. Aber er hatte das Klopfen auch gehört und kam ihr schon mit einer Kerze
entgegen. Beide hegten die gleiche Vermutung.
»Shiwago, Shiwago! Es klopft
an der Haustür, ich habe Angst, allein zu öffnen«, rief sie auf französisch und
fügte auf russisch hinzu: »Sie werden sehen, das ist Lara oder Leutnant Gaiul.«
Doktor Shiwago war von dem
Klopfen ebenfalls wach geworden und hatte gedacht, es müsse jemand von den
eigenen Leuten sein, entweder Galiullin, der nicht durchgekommen war und in
seine Zuflucht zurück wollte, wo man ihn verstecken würde, oder die wegen
irgendwelchen Schwierigkeiten von der Reise zurückgekehrte Schwester Antipowa.
Im Flur gab der Arzt
Mademoiselle die Kerze, dann drehte er den Schlüssel um und schob den Riegel
zurück. Ein Windstoß riß ihm die Tür aus der Hand, blies die Kerze aus und
überschüttete die beiden von draußen mit kalten Regenspritzern.
»Wer ist da? Wer ist da? Ist
da jemand?« riefen Mademoiselle und der Arzt um die Wette in die
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