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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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von irgendwo seitlich oder auch von oben zu
kommen, was für Feld- und Gartenblumen ungewöhnlich ist.
    Das Gedränge hinderte den
Arzt, ans Fenster zu treten. Er sah nichts, doch seine Phantasie gaukelte ihm
diese Bäume vor. Sie standen sicherlich ganz in der Nähe und streckten gelassen
ihre ausladenden Zweige zu den Waggondächern, staubig von dem
Eisenbahngeratter, mit nachtdunklem Laub, übersät mit den wachsgelben Sternchen
der flimmernden Blütenstände.
    Das wiederholte sich während
der ganzen Fahrt. Überall lärmte eine Menschenmenge. Überall blühten die
Linden.
    Dieser allgegenwärtige Geruch
schien dem nach Norden fahrenden Zug vorauszueilen, als wäre er ein die
Ausweichstellen, Bahnwärterhäuschen und Zwischenstationen anfliegendes Gerücht,
das die Reisenden immer wieder bestätigt vorfanden.
     
    In der Nacht führte ein
dienstbereiter Gepäckträger der alten Schule in Suchinitschi Doktor Shiwago
über die unbeleuchteten Gleise und ließ ihn von der Rückseite her in einen
Waggon zweiter Klasse einsteigen; der Zug, soeben eingetroffen, war im Fahrplan
nicht vorgesehen.
    Kaum hatte der Träger die Tür
mit einem Schaffnerschlüssel geöffnet und das Gepäck des Arztes reingestellt,
galt es einen kurzen Kampf mit dem Zugbegleiter zu bestehen, der den Arzt
gleich wieder hinaussetzen wollte, doch Juri Shiwago konnte ihn beschwichtigen,
und der Mann verschwand.
    Der geheimnisvolle Zug hatte
eine besondere Bestimmung und fuhr ziemlich schnell, hielt auch immer nur kurz
und wurde bewacht. Im Waggon war viel Platz.
    Das Abteil, das Shiwago
betrat, wurde von einer tropfenden Kerze auf dem Tischchen beleuchtet, deren
Flamme im Luftstrom des halb offenen Fensters flackerte.
    Die Kerze gehörte dem einzigen
Reisenden im Abteil. Dieser war ein hellblonder junger Mann, nach seinen langen
Armen und Beinen zu urteilen, sehr hochgewachsen. Seine Gliedmaßen bewegten
sich leicht in den Gelenken wie schlecht befestigte Einzelteile von
mehrgliedrigen Gegenständen. Er saß bequem zurückgelehnt auf der Polsterbank am
Fenster. Bei Shiwagos Eintreten stand er höflich auf und wechselte dann seine
halb liegende Pose gegen eine schicklichere sitzende.
    Unter seiner Polsterbank lag
etwas wie ein Wischlappen. Ein Zipfel des Lumpens bewegte sich auf einmal, und
unter der Bank hervor kroch mit hastiger Geschäftigkeit ein Vorstehhund mit
Hängeohren. Er beschnupperte und beäugte Shiwago, lief dann im Abteil hin und
her und bewegte dabei die Läufe ebenso elastisch wie sein schlaksiger Herr die
Beine, wenn er sie übereinanderschlug. Auf Herrchens Befehl kroch der Hund
beflissen zurück unter die Bank und nahm wieder das Aussehen eines
zusammengeknüllten Wischlappens an.
    Erst jetzt sah Shiwago an
einem Haken eine Doppelflinte im Futteral, eine lederne Patronentasche und eine
mit geschossenem Wildgeflügel vollgestopfte Jagdtasche hängen.
    Der junge Mann war Jäger.
    Er zeigte eine
außergewöhnliche Redseligkeit und verwickelte den Arzt mit liebenswürdigem
Lächeln in ein Gespräch. Dabei sah er ihm nicht im übertragenen, sondern im
wörtlichen Sinne fortwährend auf den Mund.
    Der junge Mann hatte eine unangenehm
helle Stimme, die, wenn er sie erhob, in ein metallisches Falsett überging.
Noch etwas war sonderbar: Dem Anblick nach Russe, sprach er den Vokal »u« auf
wunderliche Weise aus, nämlich wie das französische »u« oder das deutsche »ü«.
Mehr noch, dieses verdorbene »u« bereitete ihm große Mühe, und er sprach es mit
schrecklicher Anspannung, ein wenig kreischend, lauter als die sonstigen Buchstaben.
Gleich zu Anfang verblüffte er Shiwago mit dem Satz: »Gestern früh noch war ich
mit dem Hünd auf Entenjagd.«
    In Momenten, wenn er sich mehr
in der Gewalt hatte, überwand er diese Unrichtigkeit, aber kaum vergaß er sich,
machte sie sich wieder bemerkbar.
    Was ist das für eine Teufelei?
dachte Shiwago. Darüber muß ich schon gelesen haben, das kommt mir bekannt vor.
Als Arzt müßte ich das wissen, aber es ist wie weg aus dem Kopf. Eine
Fehlsteuerung des Gehirns, die den Aussprachedefekt hervorruft. Aber dieses
Heulen klingt so komisch, daß man Mühe hat, ernst zu bleiben. Eine Unterhaltung
ist ganz unmöglich. Ich steige lieber hinauf und lege mich hin.
    Das tat er denn auch. Als er
sich auf der oberen Pritsche ausstreckte, fragte der junge Mann, ob er die
Kerze löschen solle, die vielleicht störe. Der Arzt nahm den Vorschlag dankbar
an. Der Nachbar pustete die Kerze aus. Es wurde

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