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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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drückend heiß. Wie drei Tage zuvor braute sich ein Gewitter zusammen.
    Die Lehmhütten und die Gänse
auf dem mit Sönnenblumenschalen
vollgespuckten Bahnhofsvorplatz zeigten ein erschrockenes Weiß unter dem
starren Blick des schwarzen Gewitterhimmels.
    Vor dem Bahnhofsgebäude lag
ein großer freier Platz, der sich nach beiden Seiten weit hinzog. Das Gras
darauf war zertrampelt, denn den Platz bedeckte eine unermeßliche
Menschenmenge, die seit Wochen auf einen Zug in der jeweils gewünschten
Richtung wartete.
    Da gab es alte Männer in
grobem Bauernrock, die in der sengenden Sonne von Gruppe zu Gruppe gingen, um
Gerüchte und Informationen aufzuschnappen. Schweigsame Halbwüchsige um die
Vierzehn lagen auf der Seite, Ellbogen aufgestützt, in der Hand eine Gerte, als
ob sie Vieh hüteten. Um sie herum tummelten sich ihrejüngeren Brüderchen und
Schwesterchen; ihre Hemden waren hochgerutscht und zeigten die rosa Popos. Die
geschlossenen Beine ausgestreckt, saßen ihre Mütter auf der Erde und hatten die
Säuglinge vorn unter ihre derben braunen Gewänder genommen.
    »Wie eine Hammelherde sind sie
auseinandergelaufen, als die Schießerei losging. Das mochten sie nicht!« sagte
feindselig der Stationsleiter Powarichin, während er sich mit Doktor Shiwago
durch die Reihen der Leiber schlängelte, die vor dem Bahnhof und auch drinnen
auf dem Fußboden lagen.
    »Plötzlich war der Rasen wie
leergefegt! Man konnte wieder erkennen, wie Erde aussieht. War das eine Freude!
Vier Monate lang war sie nicht zu sehen unter diesem Zigeunerlager, wir hatten
sie schon ganz vergessen. Da, hier hat er gelegen. Erstaunlich, der Vorfall,
man hat ja im Krieg viel Schlimmes gesehen und sollte daran gewöhnt sein. Aber
da hat mich doch das Mitleid gepackt! Vor allem, diese Sinnlosigkeit. Wofür?
Was hat er ihnen Böses getan? Menschen nennt sich das? Er soll der Liebling der
Familie gewesen sein. Jetzt bitte rechts, ja, hier, bitte in mein Zimmer. Auf
diesen Zug brauchen Sie nicht zu hoffen, da werden Sie totgequetscht. Ich habe
für Sie eine andere Möglichkeit, im Nahverkehr. Den Zug stellen wir selber
zusammen, es geht gleich los. Aber bis zum Einsteigen kein Wort, zu niemandem!
Wenn Sie sich verplappern, wird der Zug noch vor dem Zusammenkuppeln in seine
Einzelteile zerlegt. In der Nacht steigen Sie dann um, in Suchinitschi.«
     
    Als der heimlich
zusammengekuppelte Zug langsam rückwärts vom Depot zum Bahnhof geschoben wurde,
stürzte die ganze Menschenmenge vom Vorplatz auf ihn los. Wie Erbsen rollten
die Leute von den Anhöhen herunter und die Böschung hinauf. Einander
wegstoßend, sprangen sie während der Fahrt auf Puffer und Trittbretter, andere
zogen sich zu den Fenstern herein oder kletterten auf die Waggondächer. Noch
während der Zug rollte, war er blitzschnell und hoffnungslos überfüllt, und als
er den Bahnsteig erreichte, war er vollgestopft und von oben bis unten mit
Menschen behängt.
    Wie durch ein Wunder zwängte
sich der Arzt auf die Plattform und gelangte auf unerklärliche Weise sogar in
den Gang.
    Hier blieb er während der
ganzen Fahrt bis Suchinitschi auf seinem Gepäck sitzen.
    Die Gewitterwolken hatten sich
längst verzogen. Über die von den Sonnenstrahlen versengten Felder wogte
unentwegt, die Fahrt des Zuges übertönend, das Zirpen der Grashüpfer.
    Die Fahrgäste, die am Fenster
standen, nahmen den anderen das Licht. Ihre langen Schatten fielen, zwei- und
dreifach gebündelt, auf den Fußboden, die Bänke und die Trennwände. Sie hatten
nicht genug Platz im Waggon, drängten sich durch die gegenüberliegenden Fenster
und liefen in schnellen Sprüngen auf der anderen Böschung zusammen mit dem
Schatten des fahrenden Zuges mit.
    Im Zug lärmten die Menschen,
sangen lautstark Lieder, schimpften und droschen Karten. An den Haltepunkten
gesellte sich zu dem Lärm im Innern von draußen das Stimmengewirr der Menge,
die den Zug belagerte. Es erreichte die ohrenbetäubende Stärke eines Sturmes
auf See. Und wie auf See wurde es während des Halts plötzlich unerklärlich
still. Man hörte hastige Schritte auf dem Bahnsteig längs des Zuges, Gerenne
und Streit beim Gepäckwaggon, einzelne Wörter der zurückbleibenden
Angehörigen, leises Hühnergackern und das Rascheln der Bäume im Bahnhofsgarten.
    In diesem Moment schwebte wie
ein hereingereichtes Telegramm oder wie ein Gruß aus Meljusejew ein
wohlbekannter, gleichsam an Juri Shiwago adressierter Wohlduft herein. Mit
stiller Überlegenheit schien er

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