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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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dunkel.
    Das Fenster war zur Hälfte
herabgelassen.
    »Wollen wir nicht das Fenster
schließen?« fragte Shiwago. »Haben Sie keine Angst vor Dieben?«
    Der Nachbar gab keine Antwort.
Shiwago wiederholte die Frage ziemlich laut, aber der andere reagierte wieder
nicht.
    Da riß Shiwago ein Streichholz
an, um zu sehen, was mit seinem Nachbar sei, ob er vielleicht in dem kurzen
Moment das Abteil verlassen hatte oder ob er schon schlief, was noch
unwahrscheinlicher war.
    Aber nein, er saß mit offenen
Augen auf seinem Platz und lächelte dem sich herunterbeugenden Arzt zu.
    Das Streichholz erlosch.
Shiwago entzündete ein neues und wiederholte in seinem Licht die Frage zum
dritten Mal.
    »Tun Sie, was Sie möchten«,
antwortete der Jäger sofort. »Bei mir gibt es nichts zu stehlen. Aber
vielleicht lassen wir es besser offen. Es ist stickig hier drin.«
    Das ist gut! dachte Shiwago.
Der komische Kauz scheint es gewöhnt zu sein, nur bei Licht zu sprechen. Und
wie sauber jetzt seine Aussprache war! Nicht zu fassen!
     
    Doktor Shiwago fühlte sich
nach den Ereignissen der letzten Woche, nach all den Unruhen, den
Vorbereitungen und dem morgendlichen Reiseantritt wie zerschlagen. Er hatte
geglaubt, sofort einzuschlafen, sobald er bequem lag. Aber daraus wurde nichts.
Die schreckliche Übermüdung ließ ihn keinen Schlaf finden. Erst gegen Morgen
schlummerte er ein.
    So chaotisch der Wirbel der
Gedanken auch war, die während dieser langen Nachtstunden durch seinen Kopf
schwirrten, es waren im Grunde zwei Kreise, zwei aufdringliche Knäuel, die sich
bald auf-, bald wieder zusammenrollten.
    Der eine Kreis bestand aus
Gedanken an seine Frau Tonja, an sein Zuhause und an das frühere geordnete
Leben, in dem alles, bis in die kleinsten Kleinigkeiten, von Poesie umweht und
voller Herzlichkeit und Reinheit war. Shiwago hatte Angst um dieses Leben und
wünschte es sich heil und wohlerhalten zurück, während er in dem nächtlichen
Schnellzug dahineilte, ungeduldig nach der mehr als zweijährigen Trennung.
    Die Treue zur Revolution und
die Begeisterung für sie gehörten mit zu diesem Gedankenkreis. Er sah die
Revolution so, wie die mittleren Klassen sie akzeptierten und wie die
studentische Jugend des Jahres neunzehnhundertfünf, die Block verehrte, sie
aufgefaßt hatte.
    Zu diesem gewohnten und
vertrauten Kreis gehörten auch die Merkmale des Neuen, die Vorzeichen und
Verheißungen, die vor dem Krieg, zwischen dem zwölfer und dem vierzehner Jahr,
in der russischen Geisteswelt, in der russischen Kunst, im russischen Schicksal
und in seinem eigenen am Horizont erschienen waren.
    Nach dem Krieg zog es ihn
zurück zu diesen Auffassungen, an deren Fortsetzung und Erneuerung er
mitarbeiten wollte, so wie es ihn aus der Einsamkeit nach Hause verlangte.
    Das Neue war auch Gegenstand
seiner Gedanken im zweiten Kreis, aber wie anders war dieses Neue, wie sehr
unterschied es sich von dem anderen Neuen! Es war nicht sein eigenes,
gewohntes, durch die Vergangenheit vorbereitetes Neues, sondern ein
willkürliches, unabwendbares, von der Realität diktiertes Neues, so plötzlich
wie eine Erschütterung.
    Dieses Neue waren der Krieg,
waren Blut und Grauen, Unbehaustheit und Verwilderung. Dieses Neue waren die
Prüfungen des Krieges und die Lebensweisheit, die er lehrte. Dieses Neue waren
Krähwinkelstädte, in die der Krieg verschlug, und die Menschen, mit denen er
zusammenführte. Dieses Neue war die Revolution, nicht studentisch idealisiert
wie neunzehnhundertfünf, sondern die jetzige, aus dem Krieg hervorgegangene,
blutrünstige, auf nichts Rücksicht nehmende Soldatenrevolution, gelenkt von den
Kennern dieser Naturgewalt, den Bolschewiken.
    Dieses Neue war Schwester
Antipowa, vom Krieg weiß Gott wohin geworfen, mit ihrem Leben, von dem er
nichts wußte, die Schwester, die niemals jemandem Vorwürfe machte, mit ihrer
Zurückhaltung aber beinahe klagte, rätselhaft wortkarg war und dabei stark
durch ihr Schweigen. Dieses Neue war sein eigenes redliches, intensives
Bemühen, sie nicht zu lieben, ebenso wie er sein Leben lang trachtete, allen
Menschen Liebe entgegenzubringen, besonders natürlich seiner Familie und seinen
Angehörigen.
    Der Zug raste mit Volldampf
dahin. Der Fahrtwind durchs herabgelassene Fenster zauste und verstaubte
Shiwagos Haare. Bei den nächtlichen Halts geschah das gleiche wie am Tage, die
Menge tobte, und die Linden raschelten.
    Manchmal rollten aus der Tiefe
der Nacht Fuhrwerke und zweirädrige Einspänner ratternd

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