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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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zu den Bahnstationen.
Stimmen und Rädergeräusch vermischten sich mit dem Rauschen der Bäume. In
solchen Momenten schien begreiflich, was die nächtlichen Schatten bewog, zu rascheln
und sich einander zuzuneigen, und was sie sich zuflüsterten, wobei sie die
schläfrigen schweren Blätter kaum bewegten, als wären es mühsam lispelnde
Zungen. Es war das gleiche, woran Shiwago dachte, wenn er sich auf seiner
Pritsche bewegte, nämlich die Botschaft von den sich ausweitenden Unruhen in
Rußland, die Botschaft von der Revolution, von ihrer verhängnisvollen schweren
Stunde, von ihrer voraussichtlichen Größe am Ende.
     
    Am nächsten Tag erwachte Juri
Shiwago spät. Es ging schon auf zwölf. »Marquis, Marquis!« rief der Nachbar
halblaut seinem knurrenden Hund zu. Zu Shiwagos Verwunderung war er mit dem
Jäger noch immer allein im Abteil, niemand war zugestiegen. Die Namen der
Stationen, die jetzt vorüberflogen, kannte er schon aus seiner Kindheit. Der
Zug hatte das Gouvernement Kaluga hinter sich gelassen und schnitt sich nun in
das Gouvernement Moskau.
    Nachdem der Arzt mit
Vorkriegskomfort Toilette gemacht hatte, kehrte er in das Abteil zurück und
wurde von seinem interessanten Reisegefährten zum Frühstück eingeladen. Jetzt
konnte Shiwago ihn besser in Augenschein nehmen.
    Charakteristische Merkmale
dieses Mannes waren extreme Gesprächigkeit und Beweglichkeit. Dem Unbekannten
war weniger am Kontakt und Gedankenaustausch gelegen als am Reden selbst, um
gesprochene Worte und hervorgebrachte Töne. Während er sprach, federte er immer
wieder von der Bank hoch, lachte schallend und grundlos, rieb sich vor
Vergnügen rasch die Hände, und wenn ihm auch dies noch nicht genügte, um seine
Begeisterung auszudrücken, schlug er sich mit den Händen auf die Knie und
lachte Tränen.
    Das Gespräch von gestern wurde
mit allen Absonderlichkeiten wieder aufgenommen. Der Mann war erstaunlich
inkonsequent. Bald äußerte er Bekenntnisse, zu denen ihn niemand drängte, bald
ließ er die harmlosesten Fragen unbeachtet und unbeantwortet.
    Von sich selbst erzählte er
eine Menge Phantastisches und Ungereimtes. Leider schien er auch zu schwindeln.
Unzweifelhaft aber waren seine extremen Ansichten, seine Ablehnung alles
Allgemeingültigen reine Effekthascherei.
    All das erinnerte an etwas
Altbekanntes. So radikal hatten sich die Nihilisten im vorigen Jahrhundert
geäußert, etwas später einige Helden Dostojewskis und vor noch gar nicht langer
Zeit auch ihre direkten Nachfolger, die Gebildeten der russischen Provinz, die
häufig den Hauptstädten vorauseilten dank der in der Abgeschiedenheit erhalten
gebliebenen Gründlichkeit, die in den Hauptstädten veraltet und aus der Mode
gekommen war.
    Der junge Mensch erzählte, er
sei der Neffe eines bekannten Revolutionärs, seine Eltern dagegen
unverbesserliche Reaktionäre, Wisente, wie er sie nannte. Sie besäßen unweit
der Front ein ziemlich großes Gut. Dort sei er aufgewachsen. Seine Eltern seien
ihr Leben lang mit dem Onkel verfeindet gewesen, der sie jedoch, nicht
nachtragend, jetzt mit seinem Einfluß vor vielen Unannehmlichkeiten bewahre.
    Seine eigenen Überzeugungen,
so teilte der redselige Jäger mit, glichen denen des Onkels, er sei in allem
Extremist und Maximalist: im Leben, in der Politik und in der Kunst. Wieder
klang es nach Petenka Werchowenski, nicht wegen des linken Standpunktes,
sondern wegen der Verdorbenheit und Geschwätzigkeit. Gleich wird er sich als
Futurist zu erkennen geben, dachte Shiwago, und richtig, er kam auf die
Futuristen zu sprechen. Und jetzt wird er vom Sport reden, prophezeite Shiwago
weiter, von Trabern oder vom Rollschuhlauf oder vom französischen Ringkampf. Da
kam der junge Mann auf die Jagd zu sprechen.
    Er sagte, er habe in seiner
heimatlichen Gegend gejagt, und pries sich als großartigen Schützen, und wenn
nicht sein physischer Schaden ihn gehindert hätte, Soldat zu werden, würde er
sich im Krieg mit seiner Treffsicherheit hervorgetan haben.
    Als er Shiwagos fragenden
Blick auffing, rief er aus: »Was denn, Sie haben es noch nicht bemerkt? Ich
dachte, Sie hätten meinen Defekt erraten.«
    Er griff in die Tasche und
reichte Shiwago zwei Kärtchen. Das
eine war seine Visitenkarte. Er führte einen Doppelnamen: Maxim
Aristarchowitsch Klinzow-Pogorewschich oder einfach Pogorewschich, wie er ihn
anzureden bat zu Ehren seines Onkels, der sich so nannte.
    Das andere Kärtchen war eine
in Kästchen eingeteilte Tabelle mit Darstellungen

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