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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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Decke vollgehäuft, und gewöhnlich durfte niemand hinein. Nur zu den
großen Festen, wenn viele Kinder zusammenkamen, konnten sie herumtoben und
durchs ganze Obergeschoß laufen, dann wurde auch dieser Raum geöffnet, und sie
spielten darin Räuber und Gendarm, versteckten sich unter den Tischen, malten
sich mit einem angekohlten Korken das Gesicht schwarz und verkleideten sich
wie zu einem Maskenball.
    Eine Zeitlang stand der Arzt
da, in Erinnerungen versunken, dann ging er hinunter in die Diele, um seinen
Korb zu holen.
    In der Küche hockte Njuscha,
ein scheues, schüchternes Mädchen, vor dem Herd über einem ausgebreiteten
Zeitungsblatt und rupfte die Ente. Als sieJuri Shiwago mit dem Korb in der Hand
erblickte, wurde sie rot wie Mohn, richtete sich geschmeidig auf, klopfte
Federn von der Schürze ab, grüßte und bot ihre Hilfe an. Aber der Arzt dankte
ihr und sagte, er wolle den Korb selber hinauftragen.
    Als er den ehemaligen
Abstellraum betrat, rief seine Frau aus dem zweiten oder dritten Zimmer: »Jura,
du kannst kommen!«
    Er ging zu Saschenka.
    Sein und Tonjas einstiges
Schulzimmer war jetzt das Kinderzimmer. Der Junge in seinem Bettchen sah gar
nicht so hübsch aus, wie die Fotos ihn zeigten, dafür war er Juris verstorbener
Mutter Maria Nikolajewna wie aus dem Gesicht geschnitten, war eine verblüffende
Kopie von ihr, war ihr ähnlicher als alle von ihr erhaltenen Abbildungen.
    »Das ist Papa, dein Papa, gib
ihm das Händchen«, sagte die Mutter und klappte das Seitengitter des Bettchens
herunter, damit der Vater bequemer den Jungen in die Arme nehmen konnte.
    Saschenka ließ den unbekannten
und unrasierten Mann, der ihn vielleicht erschreckte und abstieß, an sich
herankommen, doch als der Vater sich über ihn beugte, stand er hastig auf,
griff nach der Strickjacke seiner Mutter, holte aus und schlug ihm böse ins
Gesicht. Seine eigene Kühnheit erschreckte ihn so sehr, daß er sich seiner Mutter
an die Brust warf, das Gesicht in ihrer Jacke vergrub und heftig schluchzend
bittere, untröstliche Kindertränen vergoß.
    »Pfui, pfui«, rügte ihn seine
Mutter. »Das darfst du nicht, Saschenka. Dein Papa denkt sonst noch, Saschenka
ist ein böser Junge, Saschenka ist ein Tunichtgut. Zeig ihm, daß du einen Kuß
geben kannst, gib ihm einen Kuß. Nicht weinen, warum weinst du denn, du
Dummchen?«
    »Laß ihn, Tonja«, bat der
Arzt. »Quäle ihn nicht und ärgere dich nicht. Ich weiß, was für dummes Zeug dir
jetzt durch den Kopf geht. Das käme nicht von ungefähr, das wäre ein schlimmes
Vorzeichen. Alles Unsinn. Das ist ganz natürlich. Der Junge hat mich noch nie
gesehen. Morgen wird er sich an mich gewöhnt haben, und bald werden wir
unzertrennlich sein.«
    Aber er verließ das Zimmer
bedrückt und mit dem Gefühl einer unguten Vorbedeutung.
     
    Innerhalb der nächsten Tage
stellte sich heraus, wie einsam er war. Daran gab er niemandem die Schuld.
Offenbar hatte er es so gewollt und es auch erreicht.
    Seine Freunde waren merkwürdig
matt und farblos geworden. Keiner von ihnen hatte seine Welt, seine Meinung
beibehalten. Er hatte sie viel profilierter in Erinnerung. Wahrscheinlich hatte
er sie früher überschätzt.
    Solange die Ordnung der Dinge
es den Versorgten erlaubte, auf Kosten der Unversorgten ein Leben nach Lust und
Laune zu führen, war es leicht gewesen, dieses müßige Leben, das eine
Minderheit genoß, während die Mehrheit darbte, für ein Zeichen von
Persönlichkeit und Originalität zu halten!
    Kaum aber hatten sich die
unteren Schichten erhoben und die Privilegien der oberen Schichten beseitigt,
wurden diese nichtssagend und trennten sich ohne Bedauern vom selbständigen
Denken, das sie offenbar nie gehabt hatten.
    Juri Shiwago standen jetzt nur
noch Menschen ohne Phrasen und Pathos nahe, seine Frau und sein Schwiegervater,
zwei oder drei Ärztekollegen, bescheidene Arbeitstiere, einfache Mitarbeiter.
    Der Abend mit der Ente und dem
Alkohol fand wie vorgesehen am zweiten oder dritten Tag nach seiner Ankunft
statt, als er sich schon mit allen geladenen Gästen getroffen hatte, so daß
dies nicht ihre erste Begegnung war.
    Die fette Ente war ein
unglaublicher Luxus in dieser Hungerzeit, aber es fehlte das Brot dazu, und das
machte das Festessen so sinnlos, daß es sogar deprimierte.
    Gordon brachte Sprit in einer
Apothekerflasche mit angerauhtem Stöpsel. Sprit war das beliebteste
Tauschmittel der Schieber. Tonja ließ die Flasche nicht aus der Hand und
verdünnte den Sprit nach

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