Boris Pasternak
Dostojewski, genauer gesagt, seine Lyrik ist geschrieben von einem der
aufbegehrenden jungen Helden wie Ippolit, Raskolnikow oder dem
>Jüngling<. Welch allesverschlingende Kraft der Begabung! Wie das gesagt
ist, endgültig, unversöhnlich und geradlinig! Und die Hauptsache, mit welch
kühnem Schwung ist das alles der Gesellschaft ins Gesicht geschleudert und über
sie hinaus in den Raum!«
Aber die Hauptperson des
Abends war natürlich der Onkel. Tonja hatte sich geirrt, als sie sagte, Onkel
Kolja sei auf der Datsche. Er war am Tag der Ankunft seines Neffen in die Stadt
zurückgekehrt. Shiwago hatte ihn schon zwei- oder dreimal gesehen und
Gelegenheit gehabt, sich mit ihm auszusprechen, häufige »Ahs« und »Ohs«
auszustoßen und sich satt zu lachen.
Ihr erstes Wiedersehen hatte
am Abend eines grauen Schlechtwettertages stattgefunden. Feiner Sprühregen
nieselte. Shiwago ging zu seinem Onkel ins Hotel. In einem Hotel konnte man nur
noch auf Anweisung der städtischen Behörden wohnen. Aber Nikolai Wedenjapin war
überall bekannt. Er hatte seine alten Verbindungen behalten.
Das Hotel machte den Eindruck
einer Irrenanstalt, die von ihrer Administration fluchtartig verlassen worden
ist. Leere, Chaos, der Zufall regierte auf den Treppen und in den Korridoren.
Aber in das große Fenster des
unaufgeräumten Zimmers blickte der große menschenleere Platz jener verrückten
Tage, irgendwie erschreckend, als wäre er einem nachts im Traum erschienen und
läge nicht wirklich vor dem Hotelfenster.
Es war eine beeindruckende,
unvergeßliche, bedeutsame Begegnung. Der Abgott seiner Kindheit, der
Beherrscher seiner Jünglingsgedanken stand leibhaftig wieder vor ihm.
Die grauen Haare paßten gut zu
Onkel Kolja. Der weitgeschnittene ausländische Anzug saß vorzüglich. Für sein
Alter war der Onkel noch sehr jugendlich und sah großartig aus.
Natürlich verlor er sehr,
verglichen mit der Gewaltigkeit des Geschehens. Die Ereignisse verdeckten ihn.
Aber es kam Shiwago nicht in den Sinn, ihn mit diesem Maßstab zu messen.
Er wunderte sich über Onkel
Koljas Gelassenheit und die kaltblütige Spöttelei, mit der dieser über
politische Themen sprach. Seine Art, Haltung zu bewahren, war derzeit in
Rußland nicht mehr möglich. Darin zeigte sich der Zugereiste. Dieser
Charakterzug fiel ins Auge, wirkte altmodisch und berührte peinlich.
Nein, aber nicht dies füllte
die ersten Stunden ihrer Begegnung, nicht dies ließ sie einander um den Hals
fallen, weinen und vor Erregung hecheln, so daß sie bei ihrem hastigen,
hitzigen ersten Gespräch lange Pausen einlegen mußten.
Hier trafen zwei schöpferische
Charaktere aufeinander, verbunden durch familiäre Bande, und obgleich die
Vergangenheit auferstand und ein zweites Leben gewann, die Erinnerungen über
sie hereinbrachen und Ereignisse aufschwimmen ließen, die während ihrer
Trennung stattgefunden hatten, kam die Rede dann doch auf das Wichtigste, auf
die Dinge, die für Menschen von kreativer Denkungsart wesentlich sind, und da
schwanden alle Bindungen außer der einen, es gab nicht mehr Onkel und Neffe, es
gab nicht mehr den Altersunterschied, es gab nur noch die Nähe von Kraft zu
Kraft, Energie zu Energie, Grundprinzip zu Grundprinzip.
Während des letzten Jahrzehnts
hatte Nikolai Wedenjapin nie Gelegenheit gehabt, über die Freude der
Autorschaft und das Wesen der kreativen Prädestination so übereinstimmend mit
den eigenen Gedanken und so verdientermaßen angebracht ein Gespräch zu führen
wie jetzt. Andererseits hatte auch Shiwago nie so scharfsinnige, treffende,
beflügelnde, hinreißende Antworten gehört wie die seines Onkels.
Beide brachen alle Augenblicke
in Ausrufe des Staunens aus, liefen durchs Zimmer oder griffen sich an den
Kopf, wenn sie wieder fehlerlos etwas voneinander erraten hatten, oder sie
traten ans Fenster und trommelten schweigend mit den Fingern gegen die Scheibe,
verblüfft über die Beweise für ihr gegenseitiges Verständnis.
So war es bei ihrer ersten
Begegnung gewesen. Später sah der Arzt seinen Onkel ein paarmal in
Gesellschaft, und dann war er ein anderer, war er nicht wiederzuerkennen.
Er gestand, sich in Moskau als
Gast zu fühlen, und wünschte sich nicht von diesem Bewußtsein zu trennen. Ob er
dabei Petersburg als sein Zuhause ansah oder einen anderen Ort, blieb unklar.
Ihm schmeichelte die Rolle des politischen Schönredners, der eine Gesellschaft
zu bezaubern wußte. Vielleicht glaubte er, in Moskau würden politische
Weitere Kostenlose Bücher