Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
die Canyons als Wegmarke benutzten. Er wiederum war im Gegenzug als Essensgast oder für eine Ruhepause immer willkommen, wenn er bei seinen weiten Streifzügen durch Ángels Dorf kam.
Ángel machte eine ausladende Armbewegung, es war ein abrupter Schwenk ins Weite, über den Fluss und den Rand der Schlucht hinaus, über das Tarahumara-Land hinweg in eine Richtung, aus der nichts Gutes kommen kann.
»Dort gibt es ein Dorf namens Mesa de la Yerbabuena«, sagte er. »Kennst du es, Salvador?«
»Mm, hm«, murmelte Salvador.
»Weißt du, was dort passiert ist?«
»Mm-HM«, antwortete Salvador, und der Tonfall verriet: Teufel noch mal, ja .
»Viele der besten Läufer kamen aus Yerbabuena«, sagte Ángel. »Sie hatten einen sehr guten Pfad, auf dem sie lange Tagesstrecken zurücklegen konnten, sehr viel größere Entfernungen, als man von hier aus schaffen könnte.«
Unglücklicherweise war der Pfad so gut, dass die mexikanische Regierung schließlich beschloss, ihn zu asphaltieren und in eine Straße zu verwandeln. Lastwagen kamen nach Yerbabuena, und mit den Fahrzeugen kamen auch Lebensmittel, die die Tarahumara bis dahin kaum einmal zu kosten bekommen hatten – Limo, Schokolade, Reis, Zucker, Butter, Mehl. Die Bewohner von Yerbabuena fanden Gefallen an Kohlenhydraten und Leckereien, aber sie brauchten Geld, um diese Dinge zu kaufen, also ließen sie ihre Felder im Stich und trampten nach Guachochi, wo sie als Tellerwäscher und Tagelöhner arbeiteten oder am Bahnhof von Divisadero billige Souvenirs verkauften.
»Das war vor zwanzig Jahren«, sagte Ángel. »Heute gibt es in Yerbabuena keine Läufer mehr.«
Die Geschichte von Yerbabuena macht Ángel richtig Angst, denn inzwischen gibt es Gerüchte, dass die Regierung den Bau einer Straße durch den Canyongrund plane, die auch zu dieser Siedlung führen würde. Ángel hat nicht die geringste Ahnung, wofür eine Straße gut sein sollte, die hierher führt. Die Tarahumara wollen sie nicht, und sie sind die einzigen, die hier leben. Von Straßen durch die Copper Canyons profitieren nur Drogenbarone und Holzdiebe, was die obsessiven Bestrebungen der mexikanischen Regierung, in entlegenen Gegenden Straßen zu bauen, ziemlich verwirrend erscheinen lässt – oder auch nicht, wenn man bedenkt, wie viele Soldaten und Politiker in den Drogenhandel verstrickt sind.
Das ist genau das, was Lumholtz befürchtete , dachte ich. Der weitsichtige Entdecker warnte bereits vor 100 Jahren, dass die Existenz der Tarahumara gefährdet sei und dass sie verschwinden würden.
»Künftige Generationen werden über die Tarahumara nur noch das erfahren, was heutige Forscher diesem Volk durch mündliche Berichte entlocken und aus dem Studium ihrer Werkzeuge und Gerätschaften und ihrer Sitten und Gebräuche lernen können«, sagte er voraus. »Heute ragen sie noch heraus als interessantes Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit; als Vertreter einer der interessantesten Phasen in der Entwicklung der menschlichen Rasse; als einer jener wunderbar primitiven Stämme, die die Begründer und Schöpfer der Menschheitsgeschichte waren.«
»Es gibt Rarámuri, die weniger Respekt vor unseren Traditionen haben als Caballo Blanco«, klagte Ángel. »El Caballo sabe – das Pferd versteht, um was es geht.«
Ich stützte mich an der Wand von Ángels Schulhaus ab, meine Beine zitterten, und mein Kopf dröhnte vor Erschöpfung. Es war aufreibend genug gewesen, bis hierher zu kommen, und jetzt sah es ganz danach aus, als hätte die Jagd erst begonnen.
6
»So eine Verarsche.«
Salvador und ich brachen am nächsten Morgen auf, wir lieferten uns ein Wettrennen mit der Sonne bis zum Canyonrand. Salvador legte ein brutales Tempo vor, häufig ignorierte er den Wegverlauf und setzte seine Hände ein, wenn er den direkten Weg bergauf nahm, wie ein Sträfling, der eine Gefängnismauer erklimmt. Ich gab mein Bestes, um mitzuhalten, trotz meiner wachsenden Bedenken, dass wir schlicht und einfach reingelegt worden waren.
Je weiter wir Ángels Dorf hinter uns ließen, desto stärker nagte an mir der Zweifel, dass die Geschichte vom seltsamen Weißen Pferd eine letzte Verteidigungslinie gegen Außenstehende war, die bei ihrer Suche nach den Geheimnissen der Tarahumara hier herumschnüffelten. Die Legende vom Einsamen Wanderer der Sierras changierte, wie alle großen Lügengeschichten, zwischen »perfekt« und »unglaubwürdig«. Die Nachricht von einem modernen Jünger uralter Tarahumara-Lebenskunst
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