Bosmans/Deleu 03 -Ins blanke Messer
biss sich in die Fingerknöchel.
Aber nicht mit mir.
Nicht mit mir!
Er hätte vor Nervosität die Wände hochgehen können. Das Adrenalin pulsierte durch seine Adern.
Meine ganze Zukunft, alles, was ich aufgebaut habe – keinen Pfifferling mehr wert. Wenn man diesen Bastarden einmal aus der Hand frisst, ist man verloren.
Die Gedanken des fünfundvierzigjährigen Stadtratsangehörigen schweiften zurück in die Vergangenheit, als er sich noch im Gemeindezentrum engagiert hatte. Es waren einträgliche Zeiten gewesen. Erst den Bullen ein paar Brosamen unter dem Deckmäntelchen verantwortungsbewusster Jugendarbeit hinwerfen. Kampf den Drogen! Zugleich ab und zu einen Tipp für Marouf, wann und wo die nächste Razzia geplant war. Lange Zeit funktionierte das Prinzip wie geschmiert und brachte ihm eine Menge Geld ein, bei geringem Risiko. Marouf vertraute ihm. Und die Polizei ebenfalls.
Bei den letzten Stadtratswahlen war die Sache zum ersten Mal aus dem Ruder gelaufen. Ebony Projects war eine mächtige Organisation. Niemand wusste, wer die Zügel in der Hand hielt, aber wer auch immer es war, er hielt sie fest in der Hand. Zwei wichtige Persönlichkeiten kannte Abram: Claude Verspaille, den ehemaligen königlichen Staatsanwalt, der aus unerfindlichen Gründen in Ungnade gefallen war, und dessen rechte Hand Sylvain Cluts. Cluts war er bisher jedoch nicht persönlich begegnet.
»Denk an dein Volk«, hatte Verspaille gesagt. »Ein Marokkaner im Stadtrat. Das ist einzigartig in Belgien. Denk an die völlig neuen Möglichkeiten für deine Landsleute. Als Gegenleistung werde ich dich ab und zu um einen kleinen Gefallen bitten, ein paar kleine Aufträge hier und da.«
Dann haben sie meine Kampagne finanziert. Einfach großartig war das.
Voller Stolz dachte Naib Abram daran zurück. Er sah sie noch immer vor sich, die großen Werbeplakate. Überall in der Stadt lächelte sein Gesicht von den Wänden und Litfaßsäulen.
Ich wurde tatsächlich gewählt!
Wieder sah er sich an jenem sonnigen Tag im Mai auf den Stufen des Mechelner Rathauses stehen, Schulter an Schulter mit Bürgermeister Devroe. Das Gruppenfoto hing jetzt in seinem Büro und war der Stolz seiner ganzen Familie. Er hatte es hundertfach abziehen lassen, sogar bei seinen Verwandten in Tanger stand es auf dem Schrank.
Dieser Tag war der schönste in seinem ganzen Leben gewesen. Die Hälfte aller in Mechelen lebenden Marokkaner hatte ihm auf dem Grote Markt zugejubelt. Wie einem Freiheitskämpfer, einem Nationalhelden.
Naib Abram ballte die Fäuste.
Ich werde den Kampf nicht aufgeben. Niemals.
Während sich eine graue Wolke vor die Sonne schob, schlug sein Tatendrang in tiefe Versagensangst um.
Die ersten Jobs waren Peanuts. Ein paar Informationen über den marokkanischen Drogenhandel in Mechelen und Umgebung weiterleiten. Das war ein Kinderspiel. Damals hat mir Murat noch hundertprozentig vertraut. Er hatte noch nichts bemerkt. Nicht mal was geahnt.
Mit zitternden Händen zündete sich Abram eine Zigarette an, den Blick starr auf die Tür geheftet.
Wo bleiben diese Idioten? Ich bin schließlich nicht irgendwer. Gleich morgen werde ich diesen Vorfall dem Stadtrat vorlegen. Ich bin Naib Abram, das erste Stadtratsmitglied marokkanischer Abstammung in Mechelen.
Hatte er nicht das »marokkanische Mechelen« geprägt? Etwa, indem er die alte Kaserne hatte umbauen lassen und so Wohnungen für seine Landsleute und Schicksalsgenossen geschaffen hatte? Auch bei diesem Deal hatte Ebony Projects mehr als eine Hand im Spiel gehabt, dennoch. Er hatte dafür gesorgt, dass die geheimen rituellen Schlachtungen nicht zur Anzeige gebracht wurden.
Ich habe dafür gesorgt, dass sie in dieser verdammten schwarzen Stadt endlich ein anständiger Ort zum Beten eingerichtet haben. Bin ich nicht auch die Seele des Culture
Mix, unserer jährlichen multikulturellen Veranstaltung, wo sich Einheimische und Ausländer verbrüdern, gemeinsam Lieder aus beiden Kulturen singen und die jeweiligen Spezialitäten kosten? Und ich bin das Bindeglied!
Sein Blick verdüsterte sich, als er sich sagte, dass Naib, der Informant, niemals Naib, der Spieler, hätte werden dürfen. Auch nicht Naib, das handelnde Zwischenglied.
Diese Geschichte mit den Drogen. Abram durchlebte die bangen Augenblicke noch einmal. Wie er sich mit den Drogen – Kokain gemischt mit Billigstoff – bei Marouf angebiedert hatte, im Auftrag von Commandant De-wolf und Claude Verspaille. Gegen die Bezahlung von
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