Bosmans/Deleu 05 -Schnitzeljagd
einen Weg bahnte, strauchelte er. Fluchend trat er mit dem Fuß gegen einen grasbewachsenen Haufen Bauschutt, woraufhin ein Ziegelstein ein paar Meter weiterschlitterte.
Die Vorderfront des schiefen Hauses wirkte auf Deleu eher märchenhaft als gespenstisch. Das Haus erinnerte ihn an die langen Winterabende bei seiner Großmutter – manchmal auf ihrem Schoß, die Häkeldecke um ihre und seine Schultern gelegt, gemütlich in das durchgesessene Sofa gekuschelt.
Deleu wurde melancholisch, denn diese Kindheitserinnerungen wurden wie immer vom Gedanken an den Tod seiner Mutter überschattet, mit neununddreißig Jahren dahingerafft von einer auszehrenden Krebserkrankung.
Vater Deleu, ein schwer arbeitender Bauarbeiter, hatte seine beiden Söhne in die sorgenden Hände seiner Schwiegermutter übergeben. Bis drei Monate später eine neue Liebe in sein Leben trat. Daraufhin hatte er seine Sprösslinge zurückgefordert.
Großmutter hatte sich das nicht bieten lassen. Deleu erinnerte sich noch genau an ihre Worte, die so deutlich in sein Gehirn gebrannt waren, als wäre das Ganze erst gestern geschehen:
Drei Monate. Sie ist noch nicht mal kalt.
Diese acht Wörter waren mit einem derart bitteren Unterton geäußert worden, dass Dirk Deleu sie niemals vergaß.
Der sechzehnjährige Dirk und sein neunjähriger Bruder Ben, hin und her gerissen zwischen Vater und Großmutter. Ein bis aufs Messer ausgetragener Streit, als ob sich die beiden Kinder im Zentrum eines Guerillakriegs befanden.
Deleu schüttelte den Kopf, als müsste er seine Gedanken neu ordnen, und unterdrückte den Anfall von Melancholie, indem er sich wieder auf das Haus der Hexe konzentrierte.
Die Ziegelsteine waren im Lauf der Zeit dunkler geworden, und hier und da hatte jemand die braunen Fugen amateurhaft in einem zu hellen Ton repariert.
Unter dem verzogenen Fensterrahmen befand sich ein Riss, der sich bis zur Hausecke erstreckte. Die schweren Vorhänge waren geschlossen. Deleu schaute sich um. Durch den verwahrlosten Vorgarten führte ein Weg aus Bruchsteinen, dicht mit Gras überwuchert. Als er aufschaute, glaubte er hinter einem der Vorhänge das tanzende Licht einer Kerze zu erkennen.
Langsam ging er zur Eingangstür. Eine Hausnummer existierte nicht. Deleu grinste. An der Türklinke baumelte eine Holzpuppe, eine Miniaturhexe auf einem Besenstiel. Bevor er anklopfen konnte – eine Türklingel existierte ebenso wenig –, schwang die Tür auf.
Eine Frau im Jogginganzug begrüßte ihn mit einem kurzen, freundlichen Nicken und winkte ihn mit einer einladenden Geste herein. Dabei fielen ihr lange braune Locken über die Schulter.
»Ich bin …«
»Kommen Sie herein.«
Im engen Flur roch es nach Ruß, wahrscheinlich wegen eines schlecht belüfteten Holzofens. Beim Betreten des Wohnzimmers wurde Deleu vom Schein etlicher Kerzen geblendet, die den kleinen Raum gespenstisch erhellten.
Während er seinen Blick zuerst über das Bücherregal und dann zum rußschwarzen Kupferkessel im offenen Kamin schweifen ließ, betrachtete Hedwige ihren Gast leicht amüsiert.
Deleu spürte, dass sie ihn musterte.
Sie hatte einfühlsame, durchdringende grüne Augen und ein ernstes Gesicht – mitfühlend, aber kraftvoll und selbstbewusst.
Verstohlen schaute Deleu zu den Miniaturhexen, die an Nylonfäden von der Decke baumelten und im Tiefflug auf ihn herabzustürzen schienen. Er lächelte, weil er sich an seine Sammlung selbstgebastelter Kampfflugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg erinnert fühlte, die früher in seinem Zimmer über seinem Kopf endlos die Luftschlacht um England austrugen.
»Ich bin eine Hexe.«
»Äh, wie bitte?«
»Eine Hexe. Weiße Magie. Wicca.«
»Äh … ja.« Deleu nickte und suchte nach den passenden Worten.
»Womit kann ich Ihnen helfen?«
»Eine Hexe?«, hakte Deleu nach.
»Ja. Schon mein ganzes Leben lang.« Die Frau lachte, wobei ihr nicht mehr ganz so weißes Gebiss zum Vorschein kam. »Man steht damit auf und man geht damit schlafen.«
Deleu setzte sich an den Tisch und hörte sich fasziniert die Geschichte der Frau an. Eine Geschichte, die – so unwahrscheinlich sie manchmal auch klingen mochte – nicht eine Sekunde lang unaufrichtig wirkte. Die Frau erzählte davon, wie sie als kleines Mädchen spürte, dass sie kaum einen Bezug zum katholischen Glauben hatte, in dem sie erzogen worden war. Und dass sie sich als Teil des Universums fühlte und das Göttliche in irdischen Dingen erkannte, in der Natur. Außerdem
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