Bosmans/Deleu 05 -Schnitzeljagd
berichtete sie ausführlich von der Hexenwaage, auf der Frauen gewogen und manchmal absichtlich für zu leicht befunden worden waren. Denn über Hexen ging das Gerücht, dass sie leichter seien als gewöhnliche Menschen – was ja logisch war, wenn man fliegen konnte. Und sie erzählte davon, dass diese unglückseligen Frauen auf dem Scheiterhaufen landeten, wo sie vor den Augen der heulenden und johlenden Menge dem verzehrenden Flammenmeer zum Opfer fielen. Voller Begeisterung berichtete sie auch von den Ritualen, die sich auf den Mond, die Sonne und andere Naturerscheinungen bezogen. Über Kräuter und Ritualmagie.
Während Deleu amüsiert den Marmoraltar bewunderte, auf dem die Tonstatue irgendeiner Göttin prangte, erzählte die Frau weiter. Neben der Statue standen eine Vase mit Rosen, eine Kerze, ein Porzellangefäß mit weißem Pulver und ein kunstvoll geschnitzter Holzigel, zwischen dessen Stacheln Weihrauchstäbchen steckten.
Der Wortschwall verebbte erst, als Deleu das Messer bemerkte. Es lag neben der Vase und besaß eine breite Doppelklinge.
Während die Umgebung wie hinter einem Schleier verschwand, sah er die Fotos des ermordeten Mädchens wieder vor sich. Siebenundzwanzig Stichwunden, davon dreizehn tödlich, verursacht durch ein breites Messer mit Doppelklinge.
Die Kerze, das weiße Pulver … das ist Salz!
Hedwige hatte inzwischen ihre Geschichte beendet und beobachtete Deleu aus großen, klaren Augen, während sie schnell und routiniert die stark abgenutzten Tarotkarten mit kreisförmigen Bewegungen vor sich auf dem Tisch ausbreitete. Und als Deleu sich umdrehte, schien es, als würde sie seine Gedanken lesen.
»Salz. Das ist Salz. Eines der vier Elemente. Wasser, Feuer, Erde und Luft.«
Einen Moment lang herrschte Stille. Konzentriert studierte Hedwige die Karten. Dann sagte sie etwas, das Deleu erschauern ließ: »Kommissar.«
Aus Deleus Augen sprach Bewunderung, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken, als ein Mann von etwa Mitte vierzig mit kahlem Kopf und dünnem Pferdeschwanz durch den Flur ging. Er trug ein Karohemd und eine Lederweste und schaute kaum auf, während er mit lustlosen, schweren Schritten das Wohnzimmer betrat.
In der Türöffnung blieb er stehen und nickte Hedwige kurz zu. Als diese nicht sofort reagierte, machte der Mann eine abschätzige Handbewegung, drehte sich um und setzte seinen Weg fort.
Die Hexe richtete sich auf.
»Einen kleinen Moment, ich bin gleich wieder da. Mein Mann John ist Lastwagenfahrer und muss in einer halben Stunde aufbrechen.« Mit einem verächtlichen und sehr irdischen Zug um die Lippen ging sie ihrem Mann nach.
*
Hinter dem Steuer seines Golfs wurde Deleu von einer Woge der Unsicherheit erfasst. Das Gespräch hatte ihn nicht viel schlauer gemacht. Die Frau hatte ihm die Karten gelegt und tatsächlich gesehen, dass er mit Beziehungsproblemen kämpfte. Er fragte sich, wann und wie er ihr die Worte in den Mund gelegt hatte. Allerdings konnte er nicht begreifen, woher sie wusste, dass er eine Kollegin geschwängert hatte.
Komm schon, Deleu. Vernünftig denken. Wir werden einen
DNA
-Test durchführen lassen.
Mit beiden Händen umklammerte er das Lenkrad.
Eines Tages kehre ich zu Barbara zurück. Für immer. Und dann werde ich wieder glücklich.
Während sich der Golf in Bewegung setzte, versuchte Deleu, sich auf die anstehenden Aufgaben zu konzentrieren. Doch es gelang ihm nicht, Hedwige und ihre Weissagungen aus seinen Gedanken zu verbannen. Die Frau hatte gespürt, dass er ein Polizist war. Und sie hatte sich strikt geweigert, irgendwelche Informationen über ihren Kundenkreis preiszugeben.
Deleu erinnerte sich besonders an einen Satz: »Ach, Herr Kommissar, es gibt sogar Menschen, die mich fragen, welche Farbe sie am besten für ihr neues Auto wählen sollten. Diese Leute wimmel ich ab – das geht mir nun wirklich viel zu weit.«
Deleu tastete nach seinem Portemonnaie in der hinteren Jeanstasche.
Vierzig Euro. Nicht schlecht für eineinhalb Stunden.
Als die Ampel auf Grün umschaltete, machte sich sein Geschäftssinn ans Rechnen.
Drei Beratungen pro Tag. Schwarz. Nicht übel.
Er öffnete das Handschuhfach, nahm Muriel Vandergotens Akte auf den Schoß, blätterte darin herum und fluchte.
Das Personenfoto … das hätte ich mitnehmen sollen. Dann hätte ich an ihrer Reaktion erkennen können, ob sie das Mädchen gekannt hat.
Sein Blick verdüsterte sich.
Im Zennegat. Wasser, Kerzen, Salz und Weihrauch. Zu viele
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