Bosmans/Deleu 05 -Schnitzeljagd
herzförmigen Lippen zu küssen.
Er war groß, mindestens ein Meter fünfundachtzig. Als er näher kam, roch sie ein würziges Parfüm und geriet kurz ins Träumen. Doch dann berührten seine Finger ihr Handgelenk, und sie zuckte instinktiv zurück.
*
Während Walter Vereecken seinen Rollstuhl in die Teeküche manövrierte, schaute er auf seine Armbanduhr. Er zögerte. Sollte er die junge Frau noch einmal anrufen oder nicht?
Er zuckte die Achseln und rollte zurück durch den Flur. Als er gewohnheitsmäßig den Kopf hob und durch das Fenster schaute, das auf den Innenhof der Polizeiwache hinausging, stockte ihm der Atem.
»Verdammt!«
Der Mann, der ruhig zu seinem Dienstwagen schlenderte und sich dabei die letzten Reste eines Hamburgers in den Mund stopfte, war Pierre Vindevogel.
Vereecken klopfte derart hart gegen die Scheibe, dass das Glas zersplitterte. Pierre hörte das Klirren und sprang zur Seite, um dem Scherbenregen zu entgehen. Als er seinen Namen hörte, schaute er auf und sah den hochroten Kopf seines schreienden Freundes. Die Bierdose fiel ihm aus der Hand, als er Hals über Kopf zum Polizeigebäude zurückrannte.
Walter hat einen Herzanfall!
*
»Darf ich Sie bitten, mit mir zu kommen, Mevrouw Plaetinck? Wenn Sie wollen, können Sie noch schnell ein paar Sachen zusammenpacken.«
Hilde Plaetinck schaute ihn verwirrt an. »Mitkommen? Wohin?«
»Zur Polizeidienststelle. Wir haben neue Hinweise erhalten.«
»Und warum soll ich dann ein paar Sachen mitnehmen?«
»Ach, lassen Sie nur. Ich bringe Sie nachher wieder zurück. Aber es ist schon spät. Deswegen.« Der Polizeibeamte klopfte nervös mit dem Fuß auf den Boden.
Hilde Plaetinck trat noch einen Schritt zurück, und während der freundlich lächelnde Kommissar einladend die Hand ausstreckte, klingelte das Telefon erneut. Plaetinck drückte kurz die entgegengestreckte Hand und schloss die Tür. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie und deutete mit einer einladenden Geste auf das Wohnzimmer. »Nehmen Sie doch bitte Platz.«
Der athletisch gebaute Mann ließ sich auf dem Sofa nieder, schlug die Beine übereinander und faltete die Hände im Schoß.
»Hallo?« Hilde Plaetincks Gesicht erblasste. »Ja.« Dieses Mal gelang es ihr nicht, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen. Es schien, als würde sich eine eiskalte Hand um ihr Herz legen. Sie wagte nicht, zur Seite zu schauen.
»Zu spät«, flüsterte sie mit gebrochener Stimme. Der Telefonhörer rutschte ihr aus der Hand und fiel gegen den Beistelltisch. Ein paar Sekunden lang blieb sie reglos stehen, dann stürzte sie plötzlich zur Wohnungstür.
Van Cleynenbreughel sprang auf und stürmte ihr nach. Keuchend packte er die schöne Blondine an der Kehle. Plaetincks Adrenalinspiegel erreichte ungeahnte Höhen; sie riss sich los und trat kräftig um sich. Dabei traf sie ihren Angreifer im Schritt, und Van Cleynenbreughel sank auf die Knie. Sein Mund öffnete sich, und sämtliches Blut wich aus seinem Gesicht, doch er ignorierte die messerscharfen Stiche in seinem Unterleib, rappelte sich auf und schoss wie eine Kanonenkugel durch den Raum. Mit dem ganzen Körper warf er sich gegen die Wohnungstür und breitete die Arme aus. »Aufhören. Bitte. Es ist nicht so, wie du denkst. Ich bin der Freund deiner Schwester und …«
Doch Hilde Plaetinck hatte seine letzten Worte nicht mehr gehört. Sie war bereits in der Küche und drehte den Schlüssel derart heftig im Schloss, dass er fast zerbrach. Dann wühlte sie in der Küchenschublade, hielt das Messer vor sich ausgestreckt und wich Schritt für Schritt zurück, bis ihre Schultern die Küchenwand berührten. Sie drückte sich mit dem Rücken gegen die Mauer und starrte auf die Tür – das Einzige, was sie noch von einem schrecklichen Tod trennte. Diese dünne Tür, nicht einmal massiv, dieser banale, vollkommen unschuldige Gegenstand nahm plötzlich fast mythische Dimensionen an. Das Tor zur Unterwelt. Die dahinterliegende Welt war pechschwarz und abgrundtief böse.
Hilde Plaetinck lauschte angespannt.
Im Wohnzimmer war es totenstill.
Vielleicht ist er ja weg!
*
Vereecken, der wie ein Wahnsinniger Pierres Namen schrie, kam erst zur Besinnung, als sein Hirn endlich begriff, dass es wirklich sein Freund war, der keuchend vor ihm stand.
»Walter, Herrgott noch mal! Was ist los? Was hast du?«
Walter Vereecken schwieg und musterte seinen Freund frustriert. »Verdammt, Pierre. Er ist schon in der Wohnung. Der Dreckskerl sitzt bereits bei ihr
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