Bosmans/Deleu 05 -Schnitzeljagd
in der Wohnung!«
Pierre Vindevogel schien plötzlich wie in Trance. Er schaute zur Tür und griff nach seinem Schulterhalfter. Sein grobgliedriger Körper kam in Bewegung.
»Trommel jeden zusammen, den du erreichen kannst, Walter. Ich rase sofort los. Schick mir Verstärkung. Ich brauche Helikopterunterstützung. Und ruf Bosmans an!« Mit großen Schritten verschwand Pierre durch die offene Tür und stürmte die Treppe hinunter.
*
Jozef Van Cleynenbreughel ging in die Hocke und versuchte, durch das Schlüsselloch zu spähen, aber der Schlüssel versperrte ihm die Sicht. »Hören Sie … ich … ich will Ihnen kein Leid zufügen. Ich bin nicht der, für den Sie mich halten.«
Mit Grausen lauschte Hilde Plaetinck der gebrochenen Stimme. Orientierungslos schaute sie sich um, und schließlich blieb ihr Blick am düsteren Himmel hängen. Der Regen klatschte in rhythmischen Böen laut gegen die Scheiben.
Als sie sich langsam aufrichtete, schien es, als würde jeder Knochen in ihrem Körper weh tun. Sie stolperte auf die andere Seite der Küche und öffnete vorsichtig das Kippflügelfenster. Als der erste Schlag die Tür in den Scharnieren erzittern ließ, kletterte sie auf die Anrichte und schwang das rechte Bein über das rutschige Fensterbrett.
»Hören Sie. Ich will nur mit Ihnen reden! Damit wir einander besser kennenlernen. Ich habe Ihre Halbschwester sehr gut gekannt. Das ist schon alles.«
Die Worte klangen aufrichtig. Jozef Van Cleynenbreughel spürte die Unsicherheit in sich nagen. Die leisen Schritte und die quietschenden Fensterangeln waren ihm nicht entgangen. Er schloss die Augen, drehte sich um, wankte ein paar Schritte in Richtung Wohnungstür, biss sich in den Handballen und zögerte.
Plötzlich wirbelte er herum und trat in blinder Panik gegen das Schloss. Die Küchentür krachte in den Angeln, gab aber nicht nach. In dem Moment verhärteten sich Van Cleynenbreughels Züge zu einer emotionslosen Maske. Er ging einen Schritt zurück, warf sich mit der Schulter gegen die Tür und stürzte in die Küche.
Während er sich benommen aufrappelte, sah er ein Frauenbein über dem Fensterbrett schweben. Mit rudernden Armen lief er zum geöffneten Kippflügelfenster.
Von der Dachrinne einen Meter unter ihm starrte Hilde Plaetinck ihm entgegen. Das große Küchenmesser zwischen die Zähne geklemmt, versuchte sie, auf dem schmalen Sims das Gleichgewicht zu halten, während sie sich Schritt für Schritt von ihrem Angreifer wegschob. Fort von seinen vorgestreckten Händen, fort von seinen mordlustigen Augen.
»Was wollen Sie von mir? Verschwinden Sie. Was hab ich Ihnen denn getan?«, schrie sie mit überschlagender Stimme und lehnte sich mit den Ellbogen gegen die glatten Dachpfannen. Tränen strömten ihr über die Wangen.
Der Mann beugte sich aus dem Fenster. »Nimm meine Hand. Komm. Du brauchst keine Angst zu haben. Bitte, nimm meine Hand. Du wirst noch abrutschen. Das will ich nicht. Ich möchte dir helfen. Ich will dir wirklich kein Leid zufügen. Ich werde auch verschwinden – versprochen! Ich habe deinen Führerschein gefunden!«
Die junge Frau, seine Muse, reagierte nicht auf seine flehentlichen Bitten. Ihre zierlichen Schultern zuckten unkontrolliert. Jozef Van Cleynenbreughel drehte sich ängstlich um.
Mein Gott. Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich hätte hier nicht so eindringen dürfen.
Van Cleynenbreughel griff sich an die Schläfe. Er hatte stechende Kopfschmerzen. Die Ereignisse der vergangenen Tage flogen mit rasender Geschwindigkeit an ihm vorbei, als ob sein ganzes Leben zurückgespult wurde. Er versuchte, den Film anzuhalten, doch es gelang ihm nicht. Fetzen seines letzten Gesprächs mit Doktor Beherman überfluteten seinen kranken Geist.
Er hätte es niemals gewagt, den Doktor, der Muriel gekannt hatte, direkt darauf anzusprechen, aber dieser hatte das heikle Thema von sich aus angeschnitten.
Als Beherman ihm erzählte, dass Muriel eine Halbschwester hatte, hatte Van Cleynenbreughel erstaunt aufgeschaut. Das hatte Muriel, sein Mädchen, nie erwähnt. Beherman kannte den Vater von Hilde Plaetinck, Muriels Halbschwester. Dieselbe Mutter, anderer Vater. Das Foto im Führerschein, den Beherman ihm gezeigt hatte, hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Sie glichen einander wie ein Ei dem anderen. Identisch.
Doch die euphorische Stimmung war bald in Angst umgeschlagen, als Beherman ihm mit bedrücktem Gesicht berichtete, dass auch Hilde Plaetinck den Tod ihrer Halbschwester nicht hatte
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