Bosmans/Deleu 05 -Schnitzeljagd
Feigling war im Internat. In einem Gymnasium für Priesteramtskandidaten.
Aber Bert Hermans überlebte. Er überwand seine Angst vor Spinnen. Und auch die Angst vor seiner Großmutter und seinem Bruder. Und schließlich fürchtete er sich nur noch vor sich selbst.
Als Großmutter endlich tot war, suchte er seinen Bruder auf, der ihm aus Scham Obdach bot. Er machte Bert zum Diakon in seiner Gemeinde. In Sint-Truiden. Bert war stolz auf seinen neuen Status und nahm eifrig an allen Eucharistiefeiern teil. Und er vertiefte sich in die Bibel.
Viele Jahre lang. Aber dieses ganze halbgare Getue widerte ihn immer mehr an, denn so viel und so feurig sein Bruder auch predigen mochte, seine Worte klangen stets wie hohle Phrasen.
Ehebruch und Lust, die Waffen des Teufels. Sie gediehen prächtig wie wilder Wein, der jede Nutzpflanze überwuchert und erwürgt.
Bert Hermans kannte die Schuldigen, denn er hatte ein paar Mal heimlich den Platz seines Bruders eingenommen. Als Beichtvater. Das war erregend gewesen. Aber die Erregung wich erst der Scham und mündete schließlich in purer Raserei.
Fooike, der Metzger, spazierte noch immer ungestraft durch die Straßen, mit diesem falschen Lächeln auf den wulstigen Lippen und seine schwangere Frau an der Hand. Und Marcel mit seinem großen, glänzenden Lastwagen hatte ein Mädchen geschwängert und sie dann im Stich gelassen. Irgendwo auf einer seiner Auslandsreisen. Er hatte einen falschen Namen und eine falsche Adresse angegeben.
Im Beichtstuhl hatte es Bert größte Mühe gekostet, zu schweigen. Letztendlich hatte er vor Frustration seinen Bruder informiert. Und dieser Feigling … der war daraufhin furchtbar wütend geworden und hatte gedroht, ihn vor die Tür zu setzen. Sein großer Bruder, der für das Seelenheil all seiner Gemeindemitglieder Sorge zu tragen hatte. Sein großer Bruder, der ihn zum zweiten Mal verleugnete. Sein Bruder, der wusste, wohin Unzucht führen konnte. Er ließ sie gewähren und griff nicht ein.
Und Bert Hermans sonderte sich ab. Immer mehr. Das Einzige, was ihn noch begeistern konnte, waren Kinder – das einzig Reine und Unverdorbene in dieser ganzen verkommenen Drecksgemeinde.
Eines schönen Tages teilte ihm sein Bruder, Schaum vor dem Mund, mit, dass er sich von den Kindern fernzuhalten habe. Und er jagte ihn aus dem Haus und bat um Versetzung in eine andere Gemeinde. Aus Scham wegen Bert, sein Fleisch und Blut, sein einziger Bruder.
Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Bert Hermans ermordete seinen Bruder, verkaufte dessen Wagen und nahm seinen Platz ein. In Sint-Jozef, in Mechelen. Das war keine Kunst gewesen. Und von da an ging es bergauf. Von da an wurde wirklich etwas unternommen gegen die Verwahrlosung der Sitten. Von da an nahm er das Recht in die eigene Hand. Und wer trotz der feurigen Predigten doch noch der Unzucht verfiel und dies bei ihm beichten kam, dem verhalf der neue Jozef Hermans eigenhändig ins Jenseits. Denn es gab schon genug unglückliche Geschöpfe auf der Welt.
Alles lief prima. Er war im Reinen mit Gott, der beifällig zuschaute. Bis … bis …
Bert Hermans atmete schwer und öffnete die Augen. Er drückte sich aus dem Sessel hoch, ging zum Fenster, schob die Vorhänge beiseite und schaute nach draußen.
Obwohl er das Sonnenlicht scheute, war seine linke Gesichtshälfte einen Hauch dunkler als die rechte Seite, die an Pergament erinnerte.
Mit dem Zeigefinger strich er sich über die rechte Wange, und sein Blick verfinsterte sich. Die straff über den Wangenknochen gespannte Haut war gefühllos. Tot und kalt. Und zu straff – wodurch der Eindruck entstand, er habe ein halbes Facelifting durchführen lassen.
Als er sich streckte und in die andere Richtung schaute, sah er, dass die Nachbarn gegenüber, ein kinderloses Paar Mitte dreißig, beim Kaffeeklatsch saßen. Flüchtig winkte er ihnen, drehte sich dann um und zog die Vorhänge wieder zu.
Nachdem er das Licht eingeschaltet hatte, fiel sein Blick auf sein Mobiltelefon. Es lag noch immer auf der Titelseite von »Het Volk«. Er griff nach der Zeitung, schaute kurz darauf und warf sie dann achtlos in den Weidenkorb in der Ecke. Anschließend kehrte er zum Schreibtisch zurück, setzte sich und nahm das Mobiltelefon. Er schloss die Augen und zischte mit bebenden Nasenflügeln: »Deleu. Dirk Deleu.«
Bert Hermans spürte, wie der Hass in ihm aufloderte. Er presste die Hände auf die Schläfen und wimmerte wie ein verwundetes Tier.
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