Bote ins Jenseits
Indiz dafür, dass er schon am Ziel war.
Er verließ den Fahrstuhl und nahm die Übersichtstafel in Augenschein.
Das Gebäude war wirklich gewaltig. Es beherbergte eine Vielzahl an Räumen und Gängen. Wenn er die Übersicht richtig las, hatte das Gebäude anscheinend eine Art Innenhof. Zumindest befand sich in der Mitte ein großer Kreis, in dessen Zentrum ein weiterer, kleiner Kreis, aber keine Räume eingezeichnet waren. Sein derzeitiger Standpunkt war mit einem roten Punkt markiert. Er suchte nach dem Raum, in dem er Robard finden würde, stellte erleichtert fest, dass er nicht weit entfernt war, und setzte sich in Bewegung.
Die Türen hatten Ähnlichkeit mit der Tür, die er auf dem Weg ins Jenseits betreten hatte. Sie waren strahlend weiß. Nur die Flügel waren sehr viel kleiner, und es stand nicht »BITTE KOMM HEREIN!« auf ihnen. Stattdessen eine Nummer und ein Name.
306 ROBARD OBERBOTE
Kamp hatte sein Ziel erreicht. Aus alter Gewohnheit klopfte er an und öffnete gleich die Tür, ohne eine Reaktion abzuwarten. Eine Angewohnheit, die vor allem seinen Vorgesetzten immer wieder sauer aufgestoßen war.
Hinter einem großen Tisch saß, ihm zugewandt, ein Mann mit verschränkten Armen und ausgestreckten Beinen, der ihn mit einem freundlichen Blick bedachte. Kamp hatte den Eindruck, dass er bereits erwartet wurde.
»Komm ruhig herein.«
Kamp schloss die Tür und setzte sich automatisch auf die andere Seite des Tisches. Auch dieser Bote sah eigentlich völlig normal aus, ein Mann, wie man ihn sich hinter dem Schalter in einer Bank vorstellen konnte. Der einzige Unterschied zu den anderen Boten, denen er bisher begegnet war, war die Farbe der Abzeichen auf dem Overall. Sie waren nicht blau, sondern gelb.
Der Bote gab seine legere Haltung auf und nahm eine professionellere Position ein.
»Sei doch so freundlich und sage mir deinen Namen.«
»Thore Kamp. Thore mit H.«
Robard grinste, gab den Namen ein und sah sich das Ergebnis auf dem Bildschirm an.
»Thore also. Gut, gut. Mein Name ist Robard, das weißt du ja bereits. Es ist meine Aufgabe, dir aufzuzeigen, welche Möglichkeiten sich dir im Jenseits bieten. Darf ich fragen, welcher Konfession du auf Erden angehört hast?«
Da war sie wieder, die gemeinste aller Fragen.
»Ich war zahlendes Mitglied in der römisch-katholischen Kirchengemeinschaft.«
Robard zeigte keine sichtbare Regung.
»Nun, viele der Seelen, die hierher kommen, haben eine bestimmte Vorstellung vom Leben nach dem Tod im Kopf. Es ist ganz erstaunlich, welch eine Vielfalt an theologischen Modellen die Menschen im Laufe der Zeit entwickelt haben, wie viele verschiedene Gottheiten sie anbeten und dass sich sogar innerhalb ein und derselben Religion noch voneinander unterschiedliche Strömungen entwickelten. Besonders bemerkenswert ist, zu was sie bereit sind, um einen Andersgläubigen zu bekehren, ganz zu schweigen von dem, was sie tun, wenn sich jemand nicht bekehren lässt.«
Er legte eine künstliche Pause ein und musterte Kamp, als würde er sich vergewissern wollen, dass er ihn nicht gleich zu Beginn seiner Ausführungen verloren hatte. »Du warst nicht besonders gläubig, oder?« Kamp senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Kein Grund sich zu schämen. Es bringt also jeder seine persönliche Erwartungshaltung mit und findet hier dann schließlich etwas vollkommen anderes vor. Wir kennen natürlich alle Konfessionen, die es auf Erden gibt, und wissen um die Diskrepanzen, mit denen wir die Verstorbenen hier konfrontieren. Es gibt nicht wenige, die, man nur schwer davon überzeugen kann, dass sie hier nicht in der Hölle oder in der Verdammnis gelandet sind, einfach weil sie hier so rein gar nichts von dem vorfinden, worauf ihre Religion sie vorbereitet hat. Dabei ist es ganz egal, um welche es sich handelt. Ausschlaggebend sind vielmehr Eifer und Hingabe im Umgang mit ihr. Der Erzkatholik steht dem fanatischen Muslim da in nichts nach, um nur ein Beispiel zu nennen. Bei den Ungläubigen und denen, die, so wie du, ihrer jeweiligen Religion eher weniger Beachtung schenkten, gibt es seltener Probleme.«
Er legte eine weitere Pause ein, um seine Worte wirken zu lassen, und beobachtete einen nachdenklichen Kamp. »Was versuchen Sie mir da zu sagen?« Der Bote lächelte herausfordernd. »Was glaubst du?« Kamp zögerte. Nein, er war nie sehr religiös gewesen. Er wusste, dass es viele verschiedene Religionen gab, und wusste auch um ihr Konfliktpotenzial, sowohl in der
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